Peter Kathe


Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen


Illustrationen von Hartwig Nieder-Gassel & Stefan Rissmann

© 1986 by Peter Kathe, HTML by Martin Kliehm mit freundlicher Genehmigung des CFS e.V.




Inhalt:

VORSPIEL

VERLIESEBENE EINS – Definition
Raum 1.1. Was Frodo Beutlin kann, kann ich schon lange!
oder: Herleitung von FRSp aus der Literatur
Raum 1.2. Würde Deine Dame ihr Matt eventuell zurücknehmen im Tausch gegen vier Bauern?
oder: Herleitung von FRSp aus dem Spiel
Raum 1.3. Ihr wißt nicht, wie spät es ist, weil Ihr keine Digitaluhren tragt!
oder: Das Thema von FRSp
Raum 1.4. Was kann ich mit dem Stab machen?
oder: Zusammenfassende Erklärung von FRSp

VERLIESEBENE ZWEI – Geschichte der Fantasy-Rollenspiele
Raum 2.1. Magic Missile contra Barbaren-Streitaxt
oder: Entstehung und Entwicklung von FRSp

VERLIESEBENE DREI – Struktur von Fantasy-Rollenspielen
Raum 3.1. Bevor Du zauberst, gib schon mal die Kekse rüber!
oder: Die Spielsituation
Raum 3.2. Wieviel Hit-Points hat denn dieser blöde Drache noch?
oder: Funktion der FRSp-Regeln
Raum 3.3. Was in den Regeln steht, könnt Ihr vergessen!
oder: Schwerpunkte der FRSp-Regeln
Raum 3.4. Was, unser Zauberer ist chaotic evil?!
oder: Das Weltbild von FRSp

VERLIESEBENE VIER – Spielpädagogische Betrachtung
Raum 4.1. Ihr habt zwei Minuten, Euch was Schlaues einfallen zu lassen.
oder: Voraussetzungen für das Spielen von FRSp
Raum 4.2. Spricht hier jemand Zwergisch?
oder: Kommunikation und Interaktion im FRSp
Raum 4.3. Priester, heil mich!
oder: Kooperation im FRSp
Raum 4.4. Wenn Dein Ordenskrieger weiter so mit seiner Rüstung klappert, kriegt er von meinem Spitzbuben noch eine gewischt!
oder: Aggression im FRSp
Raum 4.5. Das geht nicht!
oder: Die Rolle des Spielleiters

VERLIESEBENE FÜNF – Betrachtung der Zielgruppe
Raum 5.1. Siehst Du nicht, daß ich ein Elf bin?
oder: Wer spielt FRSp?
Raum 5.2. Ich spiele FRSp, weil ich sonst nicht zaubern kann.
oder: Was macht Spaß an FRSp?

VERLIESEBENE SECHS – Folgerungen zur Funktion von FRSp
Raum 6.1. Der Spaß, Drachen und Monster zu bekämpfen, denen man tagtäglich ausgeliefert ist.
oder: Kompensationsaufgabe von FRSp
Raum 6.2. Wer hat an meiner Klugheit radiert?
oder: Integrationsaufgabe von FRSp
Raum 6.3. Hätt’ ich nicht gedacht, daß Du auch so kannst...
oder: Erneuerung durch FRSp
Raum 6.4. Mein Magier wendet “Macht über Menschen” auf ihn an.
oder: Sozialpädagogische Aussichten

NACHSPIEL

ANHANG
Fragebogen
Korrespondenz
Fremdwörter und Abkürzungen
Literaturliste




Vorspiel

Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet, die da sagen: „Fantasy-Rollenspieler? Das sind doch die Leute, die am Wohnzimmertisch vergewaltigen und sich die Köpfe abschlagen!“

Seit gut zweieinhalb Jahren beschäftige ich mich nun aktiv mit Fantasy-Rollenspielen (FRSp) – als Spieler, Spielleiter und als beliebtes Ziel in Gesprächen über Brutalität und Kompliziertheit von Spielen. Bei solchen Auseinandersetzungen fiel mir immer wieder auf, daß sich noch niemand wirklich eingehend mit FRSp befaßt hat. Es gibt fast nur die Standpunkte völliger Ablehnung (vorwiegend gegründet auf Erfahrungen mit dem Thema Fantasy) und begeisterter Annahme (hauptsächlich aufgrund eigener, nicht weiter hinterfragter Freude am Spiel). Da mein Studienschwerpunkt im Bereich Freizeit- und Spielpädagogik liegt, lag es nahe, den Versuch zu unternehmen, FRSp einmal ordentlich auseinanderzunehmen, um herauszufinden, welche Grundprinzipien, Weltanschauungen und Wirkungsmöglichkeiten darin stecken. Gerade für Sozialpädagogen wäre es schade, aus Unwissenheit und darauf beruhenden Berührungsängsten nur kopfschüttelnd an diesen Spielen vorbeizugehen.

Meines Wissens ist dies die erste Arbeit zu diesem Thema, zumindest in der BRD. Daher stütze ich mich zu einem großen Teil auf meine bundesweite Umfrage, an der sich 111 FR-Spieler beteiligten. Vielen Dank an sie alle!

Natürlich gibt es Spielerinnen und Spielleiterinnen! Es möge mir jedoch verziehen werden, wenn ich der Kürze wegen nur die männlichen Sprachformen benutze.

Noch etwas: Der Anspruch eines Textes, Diplomarbeit einer Fachhochschule zu sein, zwingt den Autor desselben, eine ganze Reihe Fachausdrücke und Fremdwörter zu benutzen, die er im Laufe seines Studiums aufgeschnappt hat. Da diese nicht jedem geläufig sind, befindet sich am Ende eine Liste, in der die wichtigsten Fremdwörter und Abkürzungen übersetzt werden.

Die Gliederungsbezeichnungen dieser Arbeit sind, der Atmosphäre wegen, an die Uralt-Dungeons der 1. Generation von FRSp angelehnt. Eine anstrengende, aber hoffentlich lohnende Queste erwartet Sie! Schnallen Sie sich die Thermoskanne Kaffee auf den Rücken, umklammern Sie Ihr Fremdwörterlexikon fester und zücken Sie den Rotstift. So gerüstet steigen Sie hinab in die




Verliesebene eins – Definition

FRSp sind Spiele, und Spieldefinitionen gibt es so viele wie Autoren, die sie aufgestellt haben. Viele beziehen sich allerdings vornehmlich auf das Kinderspiel, was FRSp erklärtermaßen nicht ist. FRSp sind Spiele für Jugendliche und Erwachsene. Daher zitiere ich hier eine Spieledefinition, die mir am ehesten zur Form von FRSp zu passen scheint, um die Bedeutung des Spiel-Aspektes allgemein zu umreißen:

„1. Der Spielprozeß bildet eine zweite, erdachte Realität, die sich von den Ernstsituationen des Lebens unterscheidet – vor allem darin, daß die Folgen von Handlungen nicht wirklich passieren, sondern für die Zeit des Spielens nur angenommen werden. Man ist nicht wirklich tot, sondern markiert nur.“

Was und wie gespielt wird, hängt von der gesellschaftlichen Situation und augenblicklichen Befindlichkeit der Spieler ab.

„2. Spiel ist überwiegend ein Prozeß und wird des Prozesses willen gemacht. Nicht das Ergebnis, nicht irgendein Produkt oder Profit, sondern der Ablauf der Handlung, die Tätigkeit selbst ist interessant.“

Dennoch ist Spiel kein Selbstzweck, wie Sie auf Ebene 6 noch erfahren werden.

„3. Zum Spiel gehört der Spaß, oft der Spaß in der Gruppe – also die Geselligkeit und die individuelle Freude.“
(alles Baer, 1982, S. 10f)

Weiterhin kann man bei einem Spiel ein Thema und eine Mechanik unterscheiden. Letztere ist beim FRSp ziemlich komplex und enthält Einflüsse aus mehreren Bereichen, von denen sie sich jeweils herleiten läßt.



Raum 1.1. Was Frodo Beutlin kann, kann ich schon lange!
oder: Herleitung von FRSp aus der Literatur

Stellen Sie sich vor, Sie lesen ein Buch, sehen einen Film oder ein Theaterstück – passenderweise eine Fantasy-Geschichte. Das ist erstmal ein passiver Vorgang der Wahrnehmung. Sie sitzen da und sehen oder hören sich an, was Ihnen geboten wird. Ist es eine fesselnde Geschichte, werden Sie etwas aktiver: Sie stellen sich vor, wie Personen, Orte, Situationen aussehen könnten, welche Geräusche und Gerüche in der Luft liegen, was die Personen empfinden oder denken. Oftmals werden Sie durch die Darstellung direkt dazu gebracht, den Blickwinkel der Figur einzunehmen.

Und dann kommt Ihre Lieblingsfigur in Situationen, wo Sie denken: „Das hätte ich aber anders gemacht!“. Sie stellen sich vor, was geschehen würde, wenn Sie anstelle der Figur gehandelt hätten. Sie beginnen, mit Ihrer Phantasie die Geschichte zu verändern, ausgehend vom Verhalten einzelner Figuren. Ihre schriftstellerische Kreativität läßt Sie vielleicht eine Vorgeschichte für die Figur entwerfen, oder völlig neue Abenteuer, in die sie hineinstolpern könnte.

Irgendwann übersteigt es wohl Ihre Vorstellungskraft, die Aktionen und Reaktionen vieler Figuren in einem selbsterfundenen Handlungsstrang vorherzusagen. Oder Sie können sich beim besten Willen nicht denken, was hinter dem nächsten Berg liegt. Sie unterhalten sich mit Freunden, die sich das Verhalten anderer Figuren vorstellen. Jemand denkt sich Orte aus, an denen die ursprüngliche Geschichte vorbeiging und erzählt Ihnen erst dann davon, wenn Ihre Figuren sie aufsuchen – der Spannung wegen.

In diesem Moment haben Sie so etwas wie eine “Live-Sendung” erreicht, ein Buch, Film, Theaterstück, dessen Handlung nicht festgelegt ist, sondern die Sie zusammen mit anderen in Form eines Gesprächs entwickeln. Mit anderen Worten: Sie haben den Schritt von der passiven Perzeption über die Imagination zur Manipulation vollzogen – und sind beim FRSp angelangt.



Raum 1.2.: Würde deine Dame ihr Matt eventuell zurücknehmen im Tausch gegen vier Bauern?
oder: Herleitung von FRSp aus dem Spiel

Eine andere Herleitung beginnt beim Brettspiel. Ich setze das Schachspiel einmal als bekannt voraus. Zwei Armeen stehen sich gegenüber, jeder Spielstein mit festgelegtem Startplatz und Bewegungsmöglichkeiten. Ebenso ist der Ausgang von Begegnungen der Figuren festgelegt. Oft bestehen sogar – gerade im Schachsport – weite Teile einer Partie aus festgelegten Zugfolgen. Auf jeden Fall gibt es ein bestimmbares Ende. Die Züge werden vom Verstand der Spieler bestimmt.

Übernehmen Sie einmal im Geiste die Rolle des Schachspielers. Ihnen wird jetzt das ganze zu eintönig, und Sie lassen etwas Phantasie hineinfließen. Die Spielfiguren haben doch Namen! Es gibt die Aristokratie, die Adligen und das einfache Volk. Wie wäre es mit einem Bauernaufstand: drei eigene Bauern auf einem Feld zusammengezogen ergeben eine neue Figur, vielleicht einen Turm. Das hätte Vor- und Nachteile, je nach Partie. So können Sie weitermachen und eine ganze Reihe neuer Regeln und Regelvarianten erfinden. Die Figuren erhalten mehr Handlungsmöglichkeiten, entwickeln gleichsam Charakter und nähern sich so ihren historischen Namensgebern. Damit die so entstandenen Charaktere wirklich individuell handeln, können sie von verschiedenen Spielern geführt werden.

Genauso können Sie das Brett mit Phantasie verändern. Ein schwarz-weißes Karomuster ist ziemlich vorstellungshemmend. Es kann zu einer Landschaftsdarstellung werden, mit unterschiedlichem Gelände, das sich auf die Figuren unterschiedlich auswirkt. Sie können sich von der 2-Parteien-Situation lösen, neue Figuren und Aufgaben erfinden. Trotzdem wäre die Vorstellungskraft noch durch und auf das Spielmaterial begrenzt. Damit wäre das Stadium der Tabletop-Spiele erreicht, ziemlich wirklichkeitsnaher – und damit auch ziemlich komplizierter – Simulationen, vornehmlich von Schlachten.


Der Einfluß eines anderen Bereiches führt hier noch weiter: der des Theaters, des Rollenspiels. Hier können Sie als ganze Person in die Rolle eines Königs oder Bauern schlüpfen, können Scheingefechte austragen und diplomatische Gespräche mit all Ihrer Mimik und Gestik führen. Sie können spontan und direkt handeln und mit anderen Spielern interagieren. Die Sache hat allerdings zwei Haken. Zum einen benötigt man sehr viel Platz, der nicht in jeder Wohnung gegeben ist. Zum anderen bedarf es gerade bei einer Fantasy-Thematik einer Menge Kulisse und technischer Tricks. Denken Sie nur mal an den obligatorischen Drachen!

Aus dieser Klemme helfen Anleihen beim Planspiel. Entstanden als Krieg-Spiel beim Militär, von Wirtschaftsunternehmen zur Planung von Marktstrategien übernommen, dient es schließlich in der Jugendarbeit der politischen Bildung. Die Teilnehmer werden in Kleingruppen eingeteilt, die jeweils die Rolle einer gesellschaftlichen Gruppe in einem Konfliktfall übernehmen. Diese Gruppen haben getrennte Räume und kommunizieren nur schriftlich miteinander, über die Vermittlung einer weiteren Gruppe, der Spielleitung (die auch den Rest der Gesellschaft darstellt, wie Presse usw.). Im Verlaufe des Spiels soll eine Lösung für den vorgegebenen Konflikt gefunden werden. Dabei werden eventuelle Aktionen der einzelnen Gruppen nur in der Vorstellung vollzogen und schriftlich mitgeteilt, ebenso deren Folgen.


Zurück zum Fantasy-Spiel. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, die direkte Interaktion des Schauspiels – z.B. den Drachenkampf – in Worte zu fassen. D.h. Sie können Ihre Figur alles tun lassen, was Sie an deren Stelle tun würden – in Ihrer Phantasie, ohne festgelegte Abbilder und Platzprobleme – und teilen dies den anderen Spielern mit. Natürlich machen Sie das mündlich, damit die Spontaneität nicht verlorengeht.

Weil oft schwer zu entscheiden ist, was verschiedene Handlungen bewirken, greift man auf eine Reihe von Regeln aus dem Brettspiel zurück. Die Zeit kann ebenfalls wie im Brett- oder Planspiel gerafft werden, so daß Sie ohne Schwierigkeiten eine mehrwöchige Abenteuerfahrt in wenigen Stunden durchleben können. Um wirklich nur das zu wissen, was die übernommene Figur weiß, wird das Erfinden und Beschreiben der Örtlichkeiten und übrigen Bewohner des Schauplatzes einem Spielleiter überlassen. Der Spielleiter muß als einziger den Überblick über die handelnden Personen, die vorkommenden Orte, den Handlungsverlauf und die Spielregeln haben. Somit sind Sie wieder beim FRSp angelangt.



Raum 1.3. Ihr wißt nicht, wie spät es ist, weil ihr keine Digitaluhren tragt!
oder: Das Thema von FRSp

Jetzt ist ein Wort zum Thema der Spiele fällig. Eine umfassende Begriffsbestimmung von Fantasy will ich hier nicht geben. Das würde (wie Standardsatz Nr. 1 von Diplom-Arbeiten sagt) den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Statt dessen verweise ich auf die noch unveröffentlichte Arbeit von M. Palm und K. Kruse “Fantasy-Literatur und ihre Funktion für den Leser”. Das Thema von FRSp umfaßt eigentlich auch nur einen bestimmten Teil der Fantasy, nämlich die Sword-and-Sorcery- oder Heroic-Fantasy. Diese ist – neben Elementen vordergründiger Spannung und häufig der Lust an der Darstellung von Gewalt – laut F. Hetmann (1984, S. 16) gekennzeichnet durch:

  1. aktionsreiche Abenteuer
  2. den Schauplatz einer mehr oder minder nur in der Phantasie bestehenden Welt, die sich
  3. in einem gesellschaftlichen Zustand befindet, in welchem moderne Wissenschaft und Technologie noch nicht vorhanden sind

Außerdem funktioniert in ihren Welten Zauberei; ein direktes Eingreifen der verschiedensten Gottheiten ist keine Seltenheit; Gut und Böse sind mehr oder weniger klar voneinander getrennt; es tummeln sich allerlei Fabelwesen, von denen Elfen und Zwerge noch am nächsten an der Wirklichkeit sind. Das AD&D-PH bezieht sich sogar wörtlich auf “Sword” und “Sorcery” und bezeichnet diese beiden Begriffe als Schlüsselelemente des Spiels. Die Werbung für das FRSp-Spiel “RuneQuest” benutzt den Begriff der Heroic-Fantasy. Auch auf MERP trifft diese Einordnung zu, da im Spiel ja die Abenteuer und Handlungen der Figuren im Vordergrund stehen.

In einer solchen Spielwelt also leben die Figuren, deren Rollen die Spieler von FRSp übernehmen. Meine Umfrage ergab in Bezug auf die am liebsten gespielten Figurenarten folgendes Ergebnis:

27,3% spielen am liebsten Zauberer (Hexer, Illusionist, Heiler...)
17,6% spielen am liebsten Kämpfer (Paladin, Barbar...)
17,1% spielen am liebsten Priester (Geweihter, Cleric, Druide...)
11,2% spielen am liebsten Abenteurer (Glücksritter, Dieb...)
5,9% spielen am liebsten Waldläufer (Streuner, Ranger...)
2,7% spielen am liebsten Barde
2,7% spielen am liebsten Assassine
7,5% spielen am liebsten Elf – nur D&D, M+M und DSA
5,9% spielen am liebsten Zwerg – nur D&D, M+M und DSA
2,1% spielen am liebsten Halbling – nur D&D

Illustration: D&D . . .

Die Handlungsstruktur des sich entwickelnden Geschehens in FRSp unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Punkt von der Handlungsstruktur in Fantasy-Romanen bzw. -Filmen. In den literarischen Vorlagen spielt oft das Schicksal (= der Zufall) eine große Rolle, um den Geschichten eine entscheidende Wende zu geben. So etwas darf im FRSp nicht geschehen! Stellen Sie sich eine typische Gruppe von abenteuerlustigen Gestalten vor, ausgerüstet mit Schwert, Magie und gesundem Menschenverstand. Die Gefährten ziehen aus, ein Geheimnis zu ergründen, überwinden viele Hindernisse, handeln klug und geschickt, aber die eine Idee oder Begegnung unter Millionen, die nötig wäre zur glücklichen Lösung der Aufgabe, bleibt aus. Da ist alles kluge Planen, geschickte Vorgehen und aller Verstand umsonst. Die Spieler werden frustriert sein und die Lust am Spiel verlieren, wenn so etwas häufiger passiert. Dem allesentscheidenden Zufall darf dem Spiel zuliebe nur eine untergeordnete Rolle zukommen – denn das Schicksal läßt sich nicht manipulieren.

Beim FRSp hat man es mit einer Gruppe von sogenannten Helden zu tun (die sich oft genug kein bißchen heldenhaft verhalten), die ein Abenteuer durch eigene Anstrengung, sei sie auch noch so groß, gemeinsam oder in abgesprochenen Einzelaktionen glücklich bestehen können müssen. Persönliches Streben ist gefragt und erfolgreich, ganz im Gegensatz zu den Fantasy-Vorbildern, in denen es oft von Übel ist, sein Schicksal verändern zu wollen. FRSp-Figuren bzw. ihre Spieler haben einen eigenen Willen und sind für sich verantwortlich. Das stellt ziemlich hohe Anforderungen an sie.



Raum 1.4. Was kann ich mit dem Stab machen?
oder: Zusammenfassende Erklärung von FRSp

Eine zusammenfassende Definition von FRSp würde es als ein Spiel bezeichnen, das an einem Tisch stattfindet, an dem ungefähr 3-8 Personen teilhaben können, von denen eine den Part des Spielleiters übernimmt. Sie entwirft als “Autor mit begrenzter Befugnis” eine Fantasy(Spiel)welt, ihre Bewohner und deren Motivationen und überlegt sich, was in dieser Welt an bestimmten Orten geschehen könnte. Die anderen Personen sind die Spieler, die jeweils die Rolle eines Bewohners der Fantasywelt, einer Figur, übernehmen (bei erfahrenen Spielern können es auch mehr als eine sein). Die Figuren erleben Abenteuer, indem die Spieler erzählen, was sie tun und sagen, und der Spielleiter erzählt, was daraufhin geschieht bzw. wie die angesprochenen Bewohner der Spielwelt (deren Rolle er übernimmt) reagieren. Streitigkeiten hat der Spielleiter als Schiedsrichter zu entscheiden. Beim Entwurf der Spielwelt, bei der Beschreibung der Figuren und beim Entscheiden häufig auftretender Situationen – wie Magieeinsatz, Kampf, Ausüben von Fähigkeiten der Figuren – helfen Regeln die Fairness zu erhalten.

Regeln bedeuten auch eine Arbeitserleichterung. Als Beispiel seien die persönlichen Eigenschaften der Figuren genannt. Wird der flinke Degenfechter Simba nur als sehr gutaussehend, mäßig stark und ziemlich geschickt und klug beschrieben, ist es schwer zu entscheiden, ob es ihm gelingt, ein schweres Eisengitter zu heben, dann die herbeieilenden Tempelwächterinnen zu betören, um in die Freiheit zu gelangen. Als Hilfe werden einige Eigenschaften als die wichtigsten betrachtet und ihnen per Würfel, Geburt simulierend, Zahlenwerte zugeordnet. Diese Werte bestimmen die Chancen, gewisse Handlungen, wie z.B. die oben beschriebenen, erfolgreich durchzuführen.

Als Spieler genügt es, lediglich zu wissen, welche Eigenschaften die eigene Figur hat. Weitere Regelkenntnis kann man sich im Laufe des Spiels aneignen. Nur der Spielleiter braucht alle für das jeweilige Abenteuer wichtigen Regeln zu kennen.

Eine grafische Darstellung der verschiedenen Elemente von FRSp sieht so aus:

Grafik: Elemente von FRSp



Illustration: Geburt eines Abenteurers




Verliesebene zwei – Geschichte der Fantasy-Rollenspiele

Raum 2.1. Magic Missile contra Barbaren-Streitaxt
oder: Entstehung und Entwicklung von FRSp

Vorausgeschickt sei ein böser Blick aus diesem Raum auf alle Verlage von FRSp, die ich um Informationen gebeten habe. Während das Echo meiner Umfrage in Spielerkreisen nicht größer hätte sein können, hüllten sich TSR, F&SF-Spiele, Fantasy Productions, FSV und Schmidt/ Droemer-Knaur in ignorierendes Schweigen. Teilweise wieder wettgemacht wurde diese Informationslücke in persönlichen Gesprächen, die ich mit einigen Autoren auf den Spielertagen 1986 in Essen führte. Ansonsten stütze ich mich im Folgenden hauptsächlich auf Artikel aus dem “Dragon”, der “Pöppel-Revue” und der “Spielbox”. Solche Zeitschriften sind natürlich werbewirksamer als eine Diplomarbeit...

Zur Sache. 1965 gründete Gary Gygax in Lake Geneva, USA, die “Tactical Studies Association”, einen Club, der sich mit Zinnfiguren und Kriegsspielen im Wohnzimmer beschäftigte – sogenannten Tabletop-Spielen. Dabei werden auf großen Tischplatten mit Miniaturfiguren historische Schlachten nachgestellt und nach bestimmten Regeln ausgetragen. 1971 kam bei Guidon Games “Chainmail” heraus, ein Regelwerk für mittelalterliche Tabletop-Spiele mit einem Anhang über den Einbau von Fantasy-Elementen. Irgendwann zu dieser Zeit oder früher veröffentlichte ein anderer dieser Clubs, die “Castle and Crusade Society”, seine eigenen Fantasy-Tabletop-Regeln. Beide Regelwerke bildeten die Grundlage für ein fortlaufendes Simulations-Spiel in einer Fantasywelt, das von Dave Arneson geleitet und entwickelt wurde. Gygax erfuhr davon, und beide schrieben zusammen die Urfassung von “Dungeons & Dragons”. Dieses erste FRSp wurde in Form dreier DIN A5-formatiger Hefte von Tactical Studies Rules, einer eigens dafür von Gygax und Don Kaye 1973 gegründeten Firma, im Januar 1974 veröffentlicht.

Dieser Erstfassung (in abgeschwächter Form auch den Weiterentwicklungen von TSR) merkte man noch deutlich die Herkunft aus dem Kriegsspiel an. Die großen Schlachten wurden individualisiert, der Kampf zwischen Monstern und Abenteurergruppe stand im Vordergrund. Auch die Brettspielanteile waren hoch. Die Figuren stiegen in ein Verlies (engl.: Dungeon) mit mehreren Etagen hinab. In den Ebenen gab es Räume, in den Räumen Monster und Schätze. Je tiefer die Ebene, desto gefährlicher die Monster und größer die Schätze. Es dauerte eine Weile, bis der wirtschaftliche Erfolg einsetzte, aber 1984 hatte TSR einen Umsatz von 35 Millionen Dollar zu verbuchen.

Das alte D&D bildete sowohl die Grundlage für weitere Entwicklungen von TSR – wie Basic-D&D und das 1978 erschienene Advanced D&D – als auch für viele andere FRSp-Systeme anderer Verlage. Die zur Zeit bestehende Titelflut kann ich hier nicht aufführen. Wichtig bei der Entwicklung aller FRSp ist jedoch, daß sich mit der Zeit die Schwerpunkte vom Kriegsspiel entfernten. Es wurde immer mehr Gewicht auf den Abenteuer-Anteil gelegt, wie er aus vielen Fantasy-Literaturvorlagen bekannt ist. Das zeigt sich auch im allgemeinen Trend einer ständigen Erweiterung der Regelteile, die sich mit nichtkämpferischen Fertigkeiten der Figuren und dem logischen Aufbau von Abenteuern befassen.

Inzwischen ist das Prinzip dieser Rollenspiele mit vielen anderen Themen verbunden worden: Science Fiction, Spionage, Horror, Superhelden, Zeichentrick... Die “reinen” Fantasy-Rollenspiele sind aber noch immer marktführend. Meiner Meinung nach ist dies die Übertragung des in den 70er Jahren in den USA entstandenen Fantasy-Booms auf den Spielesektor. Der Markt der FRSp in deutscher Sprache ist jedoch (noch) ziemlich übersichtlich, so daß ich hier einen kurzen Überblick geben kann.


Die Entwicklung des ersten deutschen FRSp “MIDGARD” begann 1977 in einer Spielgruppe, die mit den Ur-D&D-Regeln Bekanntschaft schloß. Sehr rasch wurde dieses System aber als unbefriedigend empfunden, die Mitglieder begannen, ihre eigenen Regeln zu schreiben. August 1981 erschien schließlich der erste Teil der MIDGARD-Regeln im Eigenverlag, dem Verlag für Fantasy- und Science Fiction-Spiele. 1983 erschien der zweite Teil. Ende 1985 bzw. Ende 1986 kamen der erste bzw. der zweite Teil in einer völlig überarbeiteten 5. Auflage heraus. MIDGARD ist ein sehr komplexes FRSp, dessen Autoren besonderen Wert auf genaue Simulationen von Ereignissen legen.

Das zweite FRSp in deutscher Sprache ist “Schwerter & Dämonen”. Hierbei handelt es sich um die Übersetzung des 1975 erstmals in den USA erschienenen “Tunnels & Trolls”, einer Art Parodie auf D&D. Dementsprechend sind die Regeln sehr kurz und stark mit Humor gewürzt. Die deutsche Ausgabe erschien September 1983 bei Fantasy Productions. Soweit ich weiß, hat es allerdings nicht annähernd die Verbreitung der anderen deutschsprachigen Systeme.

Kurze Zeit später, im November 1983, erschien beim Fantasy-Spiele-Verlag (das ist ein Ableger der Spielefirma ASS) die deutsche Übersetzung des Basic-D&D unter dem sinnigen und einfallsreichen Titel: “D&D”. Für dieses System sind bis heute noch zwei Erweiterungen erschienen. Der FSV konnte sich als erster eine groß angelegte Werbekampagne leisten, so daß seit Ende 1983 eine breitere Öffentlichkeit in der BRD langsam von dieser neuen Spielidee erfuhr.

Um auch noch ein großes Stück vom Kuchen abzubekommen, warfen Schmidt-Spiele zusammen mit Droemer-Knaur ihr FRSp-System “Das Schwarze Auge” Anfang 1984 etwas übereilt auf den Markt. DSA ist wie MIDGARD eine deutsche Eigenentwicklung. Überschneidungen mit anderen Systemen lassen sich jedoch nie ausschalten, schon deshalb nicht, weil alle FRSp eben auf den Urgroßvater D&D zurückgehen. So auch DSA. Die Spielgruppe um Ulrich Kiesow begann 1978, das amerikanische D&D zu spielen. Sie probierten andere FRSp durch, kamen zu dem Schluß, daß alles viel zu sehr reglementiert sei und begannen 1982/83 mit dem Schreiben eigener Regeln, aufbauend auf ihrer Spielwelt “Aventurien”. Schließlich wurde DSA an Schmidt/ Droemer-Knaur verkauft, die es mit großen Schnitzern in Regelwerk und Aufmachung veröffentlichten. Inzwischen sind auch zu diesem System zwei Erweiterungen erschienen. Dieser Verlag betrieb einen noch größeren Werberummel als der FSV, mit dem Erfolg, daß FRSp endlich allgemein bekannt gemacht wurden. Schlimm daran ist nur, daß bis heute DSA das Bild des FRSp in der Öffentlichkeit am stärksten geprägt hat – mit ebenjenen ungewollten Schnitzern wie mit bewußten Ideen. Die 1. Auflage führte FRSp dem hiesigen Publikum mit einer Vergewaltigungsszene vor! Die wurde zwar in der 2. Auflage gestrichen, aber mit dem Solo-Abenteuer “Nedime” bietet DSA immer noch das Paradebeispiel für Sexismus im deutschen FRSp (Einzelheiten dazu befinden sich im Raum 5.1.).

Das jüngste im Handel erhältliche Kind der Szene ist “Magie und Macht” von Michael Vogt und Ute Lorenz. Auch seine Wiege war aus älteren FRSp geschnitzt – dem deutschen D&D und MIDGARD, welche die Autoren Ende 1983 kennenlernten. Die Grundidee wurde begeistert aufgenommen, die bestehenden Regeln aber als viel zu kompliziert und unbefriedigend empfunden. Frühjahr 1985 kam dann die Eigenentwicklung “M+M” in die Spieleläden. Eigenart dieses FRSp ist der gegenüber den meisten Systemen sehr hohe Anteil des freien Rollenspiels (in Raum 3.2. erfahren Sie mehr darüber).

Neben den genannten FRSp gibt es noch viele andere, die wohl kaum jemals den Horizont der sie entwerfenden Spielgruppe überschreiten werden (was auch nicht nötig ist). Auf das Thema Regeländerung und -neuschöpfung komme ich im Raum 3.3. noch näher zu sprechen.




Verliesebene drei – Struktur von Fantasy-Rollenspielen

Raum 3.1. Bevor Du zauberst, gib schon mal die Kekse rüber!
oder: Die Spielsituation

Wie stellt sich ein FRSp-Abend einem unbeteiligten Besucher dar? Eine Gruppe von ca. 6 Personen um Mitte 20, überwiegend männlichen Geschlechts, sitzt um einen Tisch herum. Auf selbigem liegen ein Haufen loser Zettel, Würfel, Bleistifte, Kekse und Trinkbares. Ein Teilnehmer, neben dem sich besonders viel Papier nebst einigen Büchern stapeln, sitzt entweder verschanzt hinter einem Sichtschirm, oder mit einem überquellenden Ringbuch auf den Knien. Ein ständiges Gespräch mit wechselnden Teilnehmern liegt in der Luft, wobei immer wieder die Gegenstände auf dem Tisch fleißig benutzt werden. Es wird gestikuliert und sich bedeutungsvoll angeschaut; die Interaktionsdichte ist groß. Der Raum wird nur selten verlassen, um z.B. aufs Klo zu gehen oder Nachschub für das leibliche Wohl zu besorgen.

Eine solch oberflächliche Beschreibung genügt schon, um zu verdeutlichen, daß diese Spielsituation ziemlich klar gegenüber der übrigen Umwelt abgegrenzt ist. Das Spiel scheint die einzig wichtige Realität für die Teilnehmer darzustellen. Drei Regelsätze ermöglichen sowohl diese wirklichkeitserzeugende Kraft des Spiels als auch die Trennung jenes relativ eigenständigen, kleinen Sozialsystems von der restlichen Umwelt. Dies sind – nach Goffman (1973) und Ballstaedt (1976) – die Regeln der Irrelevanz, die konstitutiven (Transformations-) Regeln und die regulativen Regeln. Letztere sind die Spielregeln im engeren Sinn, die Ablauf und Ergebnisse von Handlungen im FRSp bestimmen. Hierüber erfahren Sie mehr in den nächsten Räumen.


Zurück an den Spieltisch. „Für die Dauer eines Spiels verfallen eine ganze Reihe von Dingen und Aspekten der Alltagswelt der Unaufmerksamkeit. Sie werden durch meist unausgesprochene Regeln der Irrelevanz aus der Spielsituation ausgeschlossen.“ (Ballstaedt, 1976, S. 56) Beim FRSp versetzen sich die Teilnehmer in eine gegenüber der Wirklichkeit völlig andersgeartete Fantasywelt, wobei sie neben den verbalen Beschreibungen von Wahrnehmungen und Handlungen kaum Anschauungsmaterial haben. Die gesamte Raumausstattung, die Tageszeit (es sei denn, man ist todmüde), Ereignisse der letzten Zeit werden unwichtig. Ebenso werden gewisse Eigenschaften der Mitspieler wenig betrachtet, wie deren soziale Stellung und Rolle im Alltag, besondere Fertigkeiten, körperliche Merkmale u.a.

Gerade die Einnahme von Rollen in einer Fantasywelt und der Wunsch bzw. die Forderung, sich rollengerecht zu verhalten, grenzen die reale soziale Situation der Spieler und ihre Beziehungen untereinander ziemlich stark aus. Dies ist ein durchaus emanzipatorischer Aspekt von FRSp, der in Raum 6.3. noch näher erläutert wird.

Weiterhin wird von den Teilnehmern verlangt, verschiedene gefühlsbedingte Handlungen zu unterlassen, also über Verluste nur auf der Ebene der Figuren zu schimpfen. Insbesondere für Spielleiter ist es wichtig, Zu- und Abneigung zu bestimmten Spielern nicht durch Begünstigungen bzw. Behinderungen Ausdruck zu verleihen. Gerade ein Spielleiter sollte neutral sein, und wenn der von ihm gespielte Händler noch so oft von den Spielerfiguren über’s Ohr gehauen wird, dürfen daraufhin nicht in der ganzen (Fantasy-)Stadt alle wichtigen Dinge ausverkauft sein! Spieler merken schnell, wenn sie ungerecht behandelt werden und verlieren den Spaß, was letztlich das ganze Spiel sprengen kann. Ballstaedt nennt dies “affektive Disziplin”.

Die Regeln der Irrelevanz dienen also dazu, für das Spiel unwichtige oder gar störende Elemente der materiellen, sozialen und affektiven Umwelt aus dem Bewußtsein der Teilnehmer auszugrenzen. Beim FRSp ist das einerseits umso wichtiger, andererseits umso leichter, weil die gesamte Spielhandlung lediglich im Bewußtsein der Teilnehmer abläuft. Das bedeutet auch, daß FRSp eine Tätigkeit ist, die starke Konzentration verlangt, eventuelle Störungen (Brechungen der Regeln der Irrelevanz) demnach seltener Auftreten, aber umso schwerer wiegen.


Die zweite Regelsorte sind die konstitutiven Regeln. Sie bestimmen, was von der Außenwelt in die Spielsituation mit einbezogen wird und welche neuen Bedeutungen diese Dinge und Aspekte erlangen. Das einfachste Beispiel für eine solche Umdefinierung zum Zwecke des Spiels bietet das Spielmaterial von FRSp. Eigentlich gibt es nämlich gar keines. Zur Verdeutlichung gewisser Begebenheiten auf der Spielwelt kann und wird jedoch alles mögliche, was eben zur Hand ist, eingesetzt. Wenn es z.B. wichtig, aber unklar ist, wo genau in der nur schwach erleuchteten, verwinkelten Halle die Figuren stehen und wo diese halbdurchsichtige, dudelsackspielende Gestalt, dann kann ein kariertes Blatt Papier mit einigen Bleistiftstrichen zum prunkvollen Rittersaal werden, verschiedenfarbige Plastikchips zu tapferen Abenteurern (der violette immer zum Zauberer) und ein unbenutzter Würfel zum musikalischen Gespenst. Es bleibt also der kreativen Phantasie jedes einzelnen Spielers überlassen, sich die Situation vorzustellen und sich hineinzuversetzen. (Werfen Sie hierzu auch einen Blick in Raum 4.1.)

Um nun allerdings unserer konsumentenfreundlichen Wirklichkeit Genüge zu tun, muß gesagt werden, daß es inzwischen auch für FRSp eine Menge käuflich zu erwerbenden Zubehörs gibt, welches der visuellen Phantasie konsumorientierter FR-Spieler auf die Sprünge helfen soll. (Das Sammeln und Bemalen von Zinnfiguren betrachte ich als eigenständiges Hobby.)

Anders als bei anderen Spielen gibt es bei FRSp kein Ereignis, das per konstitutiver Schlußregel als Ende des Spiels definiert ist. Zwischen den Spielterminen wird die Handlung einfach unterbrochen. Die Ermöglichung des Spielens einer fortlaufenden Geschichte ist eine wichtige Eigenart von FRSp. Das absichtliche Fehlen eines festgelegten Spielendes macht noch einmal deutlich, daß es auf den Prozeß des Spielens ankommt und nicht auf die Endsituation mit Gewinnern und Verlierern, die zu erreichen der Spielverlauf nur ein Mittel ist. Man spielt um des Spielens willen, nicht um einen vom Spiel losgelösten Spaß am Gewinn(en). Bei FRSp gewinnt, wer Spaß dabei hat (mehr dazu im Raum 5.2.).

Illustration: Du?

Die konstitutiven Regeln erstrecken sich auch auf die Teilnehmer. Sie selber gehen in das Spiel ein, indem sie aus ihren jeweiligen Alltagsrollen in die Rollen der Fantasy-Figuren schlüpfen – Figuren, die oftmals völlig andere Eigenschaften haben als ihre Spieler. (Wer kann schon mit Tieren reden?) Dementsprechend verändert sich auch das – vorgestellte – Verhalten der Spieler. Sie tun so, als ob..., sie stellen sich vor, was in ihnen steckt, wenn... Sie können sich ausleben auf Gebieten, die ihnen sonst verwehrt sind.

Da FRSp ein Kind unserer Zeit und Zivilisation ist, bietet es Gelegenheit, eine ganze Reihe sozial erwünschter Verhaltensweisen zur Schau zu stellen. Als vorwiegend intellektuelles Spiel sind dies natürlich in erster Linie Eigenschaften wie: Wissen, Intelligenz, sprachliches Darstellungsvermögen, Selbstbeherrschung, geistiges Improvisationsvermögen – auch Phantasie, Einfühlungsvermögen und schauspielerisches Talent. Körperliches oder handwerkliches Geschick ist hier nicht gefragt.

Die aufgeführten Fähigkeiten dürfen allerdings nur soweit ins Spiel gebracht werden, wie sie zur jeweiligen Rolle und zu den Fähigkeiten der anderen Spieler passen. Die Grenze zwischen Spielsituation und Umwelt ist nämlich nicht undurchlässig. Die Regeln der Irrelevanz und die konstitutiven Regeln beschreiben einen Idealzustand, der nie ganz erreicht wird. Jemand, der sich mit seinem Wissen (vielleicht aufgrund längerer FRSp-Erfahrung) oder langen Monologen in den Mittelpunkt zu stellen versucht, bricht sowohl die Regeln der Irrelevanz, weil er etwas ins Spiel einbezieht, was besser draußen bliebe, als auch die konstitutiven Regeln, weil er nur unvollständig aus seiner Alltagsrolle in die Rolle seiner Figur schlüpft.

Gleiches gilt für einen Spieler, der seine aktuellen Launen und Stimmungen zu stark auf seine Figur überträgt und so während des Spiels an seinen Mitspielern ausläßt. Sicher: Geschlecht, Alter, Vorurteile, aber auch persönliche Probleme einzelner Teilnehmer oder gar Spannungen zwischen ihnen können nur schwer, oft nicht vollständig aus der Spielsituation herausgehalten werden. Im FRSp läßt sich dies jedoch ziemlich gut hinter der Maske der zu spielenden Rolle verbergen. Wenn der Paladin ständig mit seiner Rüstung klappert, obwohl der Dieb voranschleichen will, dann wird das als Charakterzug des edlen Ritters ausgegeben, der nun mal etwas gegen Langfinger hat. So können viele problematische, das Spiel zu zerstören drohende Ansätze in die Spielwelt übertragen und auf diese Art entschärft werden.

Eine andere Art der Regelverletzung sind Mißverständnisse. Im Spiel ausgesprochene Drohungen, Beleidigungen oder andere, stark gefühlsgeladene Äußerungen sind nicht ernstgemeint und auf die Dauer des Spiels begrenzt. Trotzdem besteht die Gefahr, daß jemand etwas falsch versteht, ernst nimmt und entsprechend der Spielsituation unangemessen reagiert. All diese Regelbrüche zwingen die anderen Teilnehmer dazu, die sorgfältig aufgebaute Illusion zu verlassen, die Spielsituation aufzulösen und über die Regelverletzung zu sprechen.

Interessanterweise werden nur in solchen Störfällen die Regeln der Irrelevanz bewußt. Ansonsten ist ihre Befolgung ein unbewußter Vorgang. Das liegt wahrscheinlich daran, daß sich jede Alltagssituation mit Hilfe der drei erwähnten Regelsätze beschreiben läßt. Jeder ist gewohnt, unausgesprochen immer gewisse Dinge aus seiner Aufmerksamkeit auszuklammern und andere Dinge je nach Situation verschieden zu verstehen. Ein Gesprächsbeitrag kann zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem, ob er ernst oder ironisch gemeint ist. Ebenso gibt es für jede Situation “Spielregeln”, nach denen “man” sich benimmt. Nur sind diese Regeln des Alltags sehr starr und bestimmten Normen und Werten unterworfen. Regelbrüche ziehen oft Bestrafungen nach sich (werden negativ sanktioniert). Im FRSp ist es erlaubt und sogar ausdrücklich erwünscht, Regeln zu ändern. Meine Umfrage ergab, daß fast alle FR-Spieler (71%) nach veränderten Originalregeln spielen.

Inwieweit ein Spielleiter oder eine Spielgruppe sich gegen herrschende Normen und Werte unserer Gesellschaft auflehnen und diese in veränderter Form oder gar nicht in ihre Spielwelt übernehmen, ist ihnen überlassen. Hier ist der Spielpädagogik eine weitere Möglichkeit gegeben, FRSp als emanzipatorische Kraft einzusetzen, um z.B. utopische Gesellschaftsmodelle durchzuspielen.



Raum 3.2. Wieviel Hit-Points hat denn der blöde Drache noch?
oder: Funktion der FRSp-Regeln

Nun zum oben bereits angesprochenen dritten Regelsatz, den regulativen Regeln. Dies sind die eigentlichen Spielregeln, das, was man beim Kauf eines FRSp erwirbt: jene mehr oder weniger dicke Folianten oder Hefte, deren Seiten meist schrecklich eng bedruckt sind mit kleiner Schrift und vielen Tabellen. Schon ihr Umfang ist ungewöhnlich groß: Das DSA-Basis-Spiel hat 110, MIDGARD I sogar 218 Seiten! FRSp-Regeln befassen sich sowohl mit dem eigentlichen Spiel während eines Spieltermins als auch mit dessen Vorbereitung und Auswertung. Sie stellen

  1. Die Naturgesetze einer Spielwelt dar, setzen
  2. die Rahmenbedingungen für das aktuelle Spiel und ermöglichen
  3. eine Beurteilung und Belohnung des Spielerverhaltens.

Auch eine Fantasywelt benötigt Naturgesetze. Und zwar als feste Planungsgrundlage für das Verhalten der Spielerfiguren. Wenn gleiche Handlungen immer verschiedene Folgen hätten, wäre es egal, was ihre Figur täte. Sie könnten sich jedwede kluge Überlegungen sparen, bräuchten keine Rolle zu spielen, es gäbe keine Möglichkeit einer von den Teilnehmern zu entwickelnden Geschichte.

Die Naturgesetze einer Spielwelt sind größtenteils ähnlich denen, die in der Wirklichkeit gelten. Sie dürfen auch nicht allzu verschieden sein, um den realen Erfahrungshorizont der Teilnehmer einzubeziehen und ein flüssiges Spiel zu gewährleisten. Im allgemeinen gilt daher auf jeder Spielwelt das Kausalitätsprinzip von Ursache und Wirkung. Die aus dem Alltag übernommenen Gesetzmäßigkeiten sind jedoch – dem Spielfluß zuliebe – vereinfacht. Nehmen Sie einmal die Newtonschen Fallgesetze. Was ist davon für Thorin, den dicken Zwergenpriester und wackeren Streiter für das Gute und den eigenen Geldbeutel, wichtig? Natürlich was passiert, wenn sich dieser blöde Seilknoten löst und er in den Treppenschacht stürzt oder wenn etwas auf ihn fällt. Und so finden Sie in einem FRSp-Regelwerk einen Abschnitt über den Schaden, den eine Figur nimmt, in Abhängigkeit von ihrer Fallhöhe (z.B. MIDGARD DFR, 1985, S. 121).

Desgleichen sind Handhabung und Wirkung von Licht, Entfernung, Zeitabläufen usw. auf der Spielwelt in einfache Regeln gefaßt. Es gibt aber auch Eigenarten von Spielwelten, die in der Wirklichkeit keine Gegenstücke in der Naturwissenschaft finden, sondern allenfalls in der Mythologie. So ist es ein Naturgesetz jeder FRSp-Welt, daß Zauberei dort funktioniert.

Zu den Naturgesetzen im weiteren Sinn will ich hier noch die – erdachten – Tatsachen und Daten aus den verschiedensten “Wissenschaften” hinzufügen, da sie dieselbe Funktion erfüllen: Sie helfen, eine Welt (wenn auch eine erfundene) mit all ihren Ländern und Meeren, klimatischen Bedingungen und Bewohnern zu beschreiben. Es gibt Regeln für die Handhabung von Wetter und Jahreszeiten, für die Eigenschaften verschiedener Materialien, für die Geschwindigkeit unterschiedlicher Fortbewegungsarten, für Anlage und Bevölkerung von Städten. Die drei Bücher mit Kreaturen, die TSR bisher für AD&D herausgebracht hat, könnten in diesem Sinne als “biologische Enzyklopädie” bezeichnet werden. Sie enthalten, wie die Kreaturenlisten anderer FRSp-Systeme, Beschreibungen von Wesen, ihrem Vorkommen und Verhalten, bis hin zur Fortpflanzung. Es ist eine feststehende Tatsache, daß es auf Spielwelten Wesen gibt, die in der Wirklichkeit bestenfalls aus Mythen, Märchen und der Fantasy-Literatur bekannt sind. In solchen Abschnitten der Regelbücher finden Sie also Abhandlungen über die obligatorischen Drachen, über Elfen, Zwerge und das ewige Kanonenfutter des Bösen: die Orks. (Möge Tolkiens Geist allen Spielgruppen gnädig sein, die mit ihnen Schindluder treiben!)


Hier tritt ein Problem auf, anhand dessen ein wichtiges Prinzip von FRSp überhaupt erläutert werden kann. Es handelt sich um die genaue Messung und einheitliche Beschreibung spielwichtiger Eigenschaften und Fakten. Mit anderen Worten: Es geht darum, um wieviel stärker ein Drache ist als ein Eichhörnchen, oder wie schlau der gerissene Händler auf dem Basar genau ist im Vergleich zur Athene-Priesterin Sybilla, denn häufig hängt davon ab, wer das günstigere Geschäft macht.

Die körperlichen und geistigen Eigenschaften der Dinge und Lebewesen einer Spielwelt werden mit einfachen Zahlen beschrieben. Zahlen, die jeweils zwischen einem Mindest- und einem Höchstwert liegen. So wird auch die Spielerfigur teilweise durch Zahlen dargestellt. Dafür werden einige menschliche Attribute als spielwichtig ausgewählt. Diese Auswahl ist von System zu System verschieden. Bei D&D sind es: Stärke, Konstitution, Geschicklichkeit, Weisheit und Charisma. Die Ausprägung dieser Eigenschaften wird durch die Höhe der zugeordneten Zahlen angezeigt. Diese Zahlen ergeben sich aus der Summe einiger Würfelwürfe. Im Beispiel D&D sind es drei sechsseitige Würfel. Dieser Vorgang simuliert die Geburt einer Figur. Aus diesen Basiseigenschaften lassen sich dann weitere Zahlen ableiten, welche die Körpergröße angeben, die Geschwindigkeit, die Ausdauer, die Menge und Art der erlernbaren Fähigkeiten. Eukledos, dem tolpatschigen Magier mit niedrigem Geschicklichkeitswert, werden die Künste des Reitens und Musizierens für immer verschlossen bleiben. Bei ihm gelangt es gerade mal zum Schwimmen.

Leben wird also berechenbar gemacht, reduziert auf eine Reihe von überschaubaren – und vor allem vergleichbaren – Zahlen. Das ist eine ungeheure Arbeitserleichterung für Spieler und besonders für Spielleiter, denen es ja obliegt, Teile einer ganzen Welt zu erfinden und zu bevölkern. Bei dieser Entwurfsarbeit hilft es ungemein, daß es reicht, daß eine Elfendruidin so-und-so-viel Würfel intelligent, stark, mutig usw. ist, daß sie eine Ausdauer in der-und-der Höhe hat, sich so-und-so-viele Fähigkeiten aus einer Liste auswählen kann, als Elfe gewisse Vorlieben hat... Ich brauche mir als Spielleiter, der vorhat, eine solche Figur auftreten zu lassen, also nicht erst die fünfbändige “Physiologie und Sozialstruktur der Elfen” aus den Fingern saugen. Zum Spielen reichen einige Seiten Richtlinien im Regelbuch.

Weiterhin schützen diese Regelteile die Spieler vor der Willkür des Spielleiters. Das soll jetzt nicht heißen, daß Spielleiter fiese Finsterlinge sind, deren ganzes Sinnen und Trachten nur dahingeht, den Spielerfiguren das Leben schwerzumachen! Eine willkürliche Entscheidung liegt zumeist in fehlendem Überblick und mangelnder Spielerfahrung begründet. Der Spielleiter sollte die für den jeweiligen Spieltermin wichtigen Regeln kennen und besonders in “seiner” Welt Bescheid wissen. Das ist eine ganze Menge Stoff zum Auswendiglernen und Ausdenken. Es ist daher besser, der Spielleiter schaut öfter mal im Regelbuch nach, als daß er spontan den Augen jedes Beholders, den die Spieler treffen, irgendwelche anderen Funktionen andichtet. Es ist schon genug damit, überhaupt einem zu begegnen... (Beholder sind unfreundliche Zeitgenossen, deren elf Augen jeweils spezielle magische Funktionen ausüben können.) Eine solche Unvorhersagbarkeit von Situationen verhindert Lernprozesse und Vorausplanung und zerstört so ein fortlaufendes Spiel.


Die zweite Funktion von FRSp-Regeln ist es, Rahmenbedingungen für die Handlungsmöglichkeiten der Figuren zu setzen. D.h. das größtenteils freie Rollenspiel mündet an bestimmten Stellen des Spielgeschehens in reglementierte Handlungsabläufe ein. Nach Ballstaedt kann man in diesen Fällen von ritualisierten Interaktionen sprechen.

Sie dienen einerseits der kontrollierten Strukturierung von häufig auftretenden Situationen, andererseits schränken sie eben dadurch Spontaneität und Kreativität ein und begrenzen so das freie Rollenspiel. Als Beispiel soll wieder Thorin, der Zwergenpriester herhalten. Kraft seines Amtes ist er zum Wunderwirken befähigt. Besonders nützlich ist es, wenn er mitten in der Wüste eine Beschwörungsformel spricht und heilige Gesten vollführt, um der abgezehrten Gruppe Brot und Wasser zu erschaffen (oder Bier und Flips, je nach Spielleiter). So eine Beschwörung dauert auf der Spielwelt eine Stunde. Es wäre äußerst langweilig für die übrigen Teilnehmer und ziemlich schwer für Thorins Spieler, eine so lange, komplizierte Formel zu sprechen und dabei wild zu gestikulieren. Außerdem müßte der Spielleiter hinterher beurteilen, ob auch alles richtig war, damit das Wunder klappt. Statt dessen wird die ganze Prozedur mit einem einfachen Würfelwurf simuliert, der Erfolg oder Mißerfolg anzeigt. Sie sehen, diese Methode kommt dem flüssigen Spielverlauf sehr zugute. Insbesondere, wenn die Gefährten noch wochenlang in dieser Wüste herumirren. So wird mit dem Ausüben fast aller Fertigkeiten der Figuren verfahren. Ein oder mehrere Würfelwürfe, deren Ergebnis mit dem Zahlenwert der entsprechenden Fertigkeit der Figur verglichen werden, genügen oft, um ein kompliziertes Schloß zu knacken, über einen Felsspalt zu springen oder auch den jungen Palastwächter zu verführen.

Diese Regelanteile können ihre Herkunft aus dem Brettspiel nicht leugnen. Nur, daß beim FRSp ein Spieler sie nicht so genau zu kennen braucht, um seine Rolle zu spielen. Er braucht nur zu sagen, was seine Figur tun will, und der Spielleiter sagt ihm nach einem Würfelwurf, ob es klappt. Die meisten so reglementierten Situationen umfassen kurze Handlungen von Figuren gegenüber Dingen oder Personen. Deshalb gibt es beim FRSp zwar Strategien und Planung, nicht aber einzeln unterscheidbare Spielzüge der Teilnehmer. Die Ausnahme bilden Kämpfe. Sie sind in den meisten Systemen stark ritualisiert. D.h. es lassen sich fest aufeinanderfolgende und sich wiederholende Handlungen (Züge) feststellen wie Bewegung, Angriff, Verteidigung, die wenig Raum für freie Entscheidungen bieten. (Mehr darüber erfahren Sie in Raum 4.4.)

Hier kann eine Aussage aus Raum 1.1. genauer gefaßt werden. Sowohl die rationale Perzeption als auch die Phantasieleistung der Imagination sind nötig, um eine Manipulation zu ermöglichen. Bei ritualisierten Aktionen/ Interaktionen ist die Perzeption dafür wichtiger, beim freien Rollenspiel die Imagination.

Auch für diese Funktion gilt, daß die Regeln neben der Gewährleistung eines flüssigen Spiels der Arbeitserleichterung aller Beteiligten dienen. Sie verhindern Langeweile bei den jeweils nicht “am Zuge” befindlichen Spielern, weil es keine Züge gibt. Desweiteren sorgen sie dafür, die Unterscheidung zwischen Spieler und Figur – und damit zwischen Spielwelt und Wirklichkeit – zu verdeutlichen. Waldo Werhahn, der ehemalige Gastwirt, hat mit seinem niedrigen Intelligenzwert eben große Schwierigkeiten, sich im Fantasy-Ausland zu verständigen, auch wenn sein Spieler drei Sprachen spricht.

Die meiner Meinung nach wichtigste Aufgabe dieser Rahmenbedingungen ist aber die Gewährleistung einer Gleichberechtigung aller Spieler, ungeachtet ihrer Fähigkeiten, sich geschickt ausdrücken und mitteilen zu können. Ein gewandter Redner wäre ja sonst in der Lage, durch genaue und geschickte Handlungsbeschreibungen oder Gesprächsbeiträge sich aus allen Situationen “herauszureden”, wie es einem weniger sprachgewandten Mitspieler nicht möglich wäre, obgleich die Figuren der beiden sich vielleicht sehr ähneln. Mit den Worten des Sozialpädagogen: Die Ritualisierung bestimmter Aktionen und Interaktionen im Spiel unterstützt die Wirkung der Regeln der Irrelevanz, indem sie die kommunikative Kompetenz der Teilnehmer relativiert.


Zu guter Letzt kommt der Aspekt der Beurteilung des Spielerverhaltens. Sie fragen sich vielleicht, welchen Zweck eine solche Leistungskontrolle erfüllt bei einem Spiel, das kein festgelegtes Ende mit einer Siegerfeststellung hat. Nun, diese Bewertung soll einen weiteren Bereich im Fantasy-Leben der Figuren auf vereinfachte Weise simulieren: Lebenserfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. Das ist nötig, weil eine FRSp-Figur keine Schachfigur ist, die in jedem Spiel an derselben Stelle startet und dieselben Eigenschaften aufweist. Ein erdachter und erwürfelter Abenteurer, dessen Rolle ein FR-Spieler übernimmt, führt ja ein fortlaufendes (erdachtes) Leben. Im Laufe seines Lebens lernt er Stück für Stück seine Fantasywelt kennen, sammelt Erfahrungen. Wenn Elfriede Grüngreif, die Zwergin, ihrem dritten Drachen begegnet, wird sie inzwischen wissen, – bzw. ihr Spieler wird es durch langes Spiel mitbekommen haben, – daß sie in einer solchen Situation mit einem geschickten Mundwerk und einem hellen Kopf um einiges weiterkommt als mit dem Schwert in der Hand. Andererseits wird Waldo kurz nach seinem Reitkursus noch oft vom Pferd fallen, aber nach einiger Zeit wird er auch in schwierigem Gelände fest im Sattel sitzen. An jedem Spieltermin erleben die Figuren mehr oder weniger spannende, lustige oder anstrengende Abenteuer, aus denen sie Erfahrungen mitnehmen – sie lernen etwas.

Das führt zum einen dazu, daß sie ihre Fähigkeiten und Eigenschaften mit der Zeit verbessern. Ein Magier kann schwierigere Zauber erlernen, ein Kämpfer sicherer mit seinem Schwert umgehen. Die Figuren werden ausdauernder, ihre Fertigkeiten können öfter erfolgreich angewandt werden. Nach dem erwähnten Grundprinzip von FRSp werden diese Erfahrungen natürlich ebenfalls durch Zahlen dargestellt. Für das Lösen schwieriger Aufgaben, die Teilnahme an Kämpfen, erfolgreiches Zaubern, spontane gute Ideen und überhaupt bestandene Abenteuer erhält eine Figur sogenannte Erfahrungspunkte. Diese werden aufsummiert, und wenn sie bestimmte Grenzen überschreiten, kann der Spieler einige oder alle Fertigkeiten der Figur verbessern. Das ist eine je nach System unterschiedlich komplizierte Prozedur, die den Spielern auch unterschiedlich große Wahlmöglichkeiten läßt. Zur Grobeinschätzung der Spielstärke von Figuren benutzen jedoch die meisten FRSp eine Stufen- bzw. Gradskala, auf der Anfängerfiguren mit Grad (Stufe) 1 beginnen und sich langsam hocharbeiten. Die genaue Anzahl Erfahrungspunkte, die eine Figur erhält, muß der Spielleiter bestimmen. Ihm obliegt es, während eines Spieltermins im Kopf oder auf Papier Buch zu führen, welche Figur sich wann und wieviel Erfahrungspunkte verdient hat. Dabei geben ihm die Regeln wieder Richtlinien an die Hand. Dieses Ausrechnen geschieht außerhalb der eigentlichen Spielzeit.

Neben einem solchen Anhäufen von “Fachwissen” bei den Figuren gibt es aber auch einen stetigen Gewinn an allgemeiner “Welterfahrung”, die gleichsam der humanistischen Bildung auf einer Fantasywelt entspricht. Diese Wissen sammelt sich in den Spielerköpfen und beinhaltet Informationen über das Verhalten von Bewohnern der Spielwelt, über geographische, soziale und ökonomische Verhältnisse gewisser Landschaften. Auch Tricks und Tips, wie man eine Figur einigermaßen sicher und erfolgreich durch ihr Fantasy-Leben führt, gehören dazu. Diese Erfahrungen macht jeder Spieler selbst, sie werden nicht gemessen und kontrolliert. Sie sind jedoch fast noch wichtiger als das in Punkten gemessene “Fachwissen”. Es gibt Situationen, die auch für hochgradige Figuren noch gefährlich und nur mit “Welterfahrung” zu meistern sind. Auch 10.-gradige Figuren verdursten in der Wüste, wenn sie sich vorher nicht zusammensetzen, eine solche Reise geschickt planen und eine entsprechende Ausrüstung besorgen. Ebenso dürfte die Gradzahl des Priesters einer guten Gottheit von keinerlei Bedeutung sein, wenn sein Spieler ihn offen und allein durch das Hauptportal des größten Dämonentempels der Unterwelt spazieren läßt.

Die Erfahrungspunkte einer Figur beeinflussen die durch Regelmechanismen abgedeckten (ritualisierten) Aktionen/ Interaktionen; die Spielerfahrenheit der Teilnehmer beeinflußt dagegen das freie Rollenspiel. Bei all dem darf eben nicht vergessen werden, daß der Charakter einer Figur vom Charakter ihres Spielers abhängt, bzw. diesen mehr oder weniger verzerrt widerspiegelt.

Illustration: EP


Raum 3.3. Was in den Regeln steht, könnt Ihr vergessen!
oder: Schwerpunkte von FRSp-Regeln

Die verschiedenen FRSp-Systeme auf dem Markt weisen eine Reihe Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede auf. Letztere sind eigentlich nur quantitativer Art, d.h. die verschiedenen Einzelaspekte von FRSp sind unterschiedlich ausgeprägt. Allen gemeinsam ist, wie Sie schon in Raum 1.3. erfahren haben, das Thema der Sword-and-Sorcery-Fantasy. Das schlägt sich unter anderem darin nieder, welchen Raum die Autoren den beiden Bereichen Zauberei und Kampf in den Regelbüchern geben. Folgende Tabelle bietet einen Überblick über die hierzulande verbreitetsten Systeme:

System Zauberanteil
am Regelumfang
Kampfanteil
am Regelumfang
Sword-and-Sorcery
insgesamt
AD&D (DMG + PH) 36% 10% 46%
D&D (Basis-Set) 16% 5% 21%
DSA (Basis-Spiel) 15% 20% 35%
MERP (Rulebook) 20% 12% 32%
MIDGARD (1983) 25% 17% 42%

Hierfür wurden von jedem System nur die Regelbücher untersucht, die ausreichen, um ein Spiel zu ermöglichen. Ausbau- und Zusatzbücher, die zu Beginn nicht nötig sind, wurden nicht untersucht. Inhaltsverzeichnisse, ganzseitige Illustrationen und Einführungsabenteuer wurden nicht als Regelseiten betrachtet. Unter Zauberregeln fällt alles, was sich mit der Anwendung, dem Erlernen und dem Erfahrungsgewinn durch Zauberei befaßt, einschließlich der Auflistung von Zaubersprüchen. Unter Kampfregeln fallen alle Regeln, die sich auf Kampfsituationen, Waffen, Rüstungen, das Erlernen und den Erfahrungsgewinn durch Kampf beziehen.

Nicht aufgenommen in die Tabelle ist der Anteil, den die beiden Bereiche am Gewinn von Erfahrungspunkten haben, also inwieweit sie die persönliche Entwicklung der Figuren steuern. Das ist wichtig für ein fortlaufendes Spiel, läßt sich aber nur grob einschätzen. Insbesondere ergäbe sich für D&D eine Erhöhung der Wichtigkeit der beiden Bereiche, bei MIDGARD und DSA eine Senkung.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß der Sword-and-Sorvery-Anteil an den Regeln von FRSp ungefähr ein Drittel ausmacht und somit die Definition des Themas in Raum 1.3. rechtfertigt.

Wie sieht nun die Praxis aus? Werden Kämpfer und Magier von den Regeln bzw. im Spiel bevorzugt? Können die meisten Aufgaben, die Spielgruppen gestellt werden, wirklich unter verstärktem Einsatz von Zauberspruch und Schwert gelöst werden? Das sollte die Aufstiegsgeschwindigkeit zeigen, mit der die einzelnen Figurenklassen erfahrungsgemäß höhere Grade erreichen. Meine Umfrage ergab auf die Frage, welche Figurenklasse am schnellsten aufsteige, folgendes Ergebnis:

44,4% sagen, daß Kämpfer,
16,5% sagen, daß Diebe und Glücksritter,
11,3% sagen, daß Zauberer,
11,3% sagen, daß Priester,
2,6% sagen, daß Waldläufer,
2,6% sagen, daß Elfen am schnellsten aufsteigen.
11,3% sagen, daß keine Klasse bevorzugt sei.

In der Praxis scheint demnach der Umgang mit der Magie für viele noch schwieriger zu sein als die Handhabung von Schwertern. Diese Tabelle zeigt dagegen die verhältnismäßige Wichtigkeit nichtkämpferischer Fertigkeiten im heutigen FRSp. Ebenso scheint es den Spielern tatsächlich mehr um einen für sie interessanten Spielverlauf zu gehen als um “Gewinn”, weil trotz langsameren Aufstiegs zauberkundige Figuren bevorzugt gespielt werden (Raum 1.3.).


Bei den Schwerpunktsetzungen der Systeme lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden. Auf der einen Seite die Absicht, ein für alle Teilnehmer möglichst einfach zu erlernendes und zügiges Spiel zu gewährleisten, auf der anderen Seite eine äußerst genaue Simulation von Geschehnissen und Gegebenheiten zu ermöglichen, in der die Spieler viele Entscheidungsmöglichkeiten haben.

FRSp, die der ersten Tendenz folgen, haben relativ kurze Regeln, die den Spielern während ritueller Aktionen/ Interaktionen kaum Entscheidungsfreiheit lassen. Brettspiel- und Rollenspielelemente sind klar getrennt. Eine realistische (im Sinne von “glaubhafte”) Darstellung der Ereignisse ist damit weniger möglich. Andererseits benötigen die Teilnehmer nicht die Zeit, um viele Entscheidungen zu fällen, so daß das Spiel auch für Anfänger schon flüssig und wenig anstrengend ist. Beispiele für solche Spiele sind S&D und das Basis-Spiel von DSA.

FRSp, in denen sich die zweite Tendenz wiederfindet, weisen ziemlich umfangreiche Regelwerke auf. Das rührt daher, daß mehr Gesetzmäßigkeiten und Fakten einer Welt als spielwichtig aufgenommen sind als in den obengenannten Systemen. Ebenso sind mehr Handlungsabläufe ritualisiert. Der Umfang wächst weiterhin durch die Gewährung größerer Entscheidungsfreiräume bei rituellen Aktionen/ Interaktionen, d.h. die Hereinnahme von Rollenspielelementen in die Brettspielreste. Diese Spiele sind – in erster Linie für den Spielleiter – schwieriger zu erlernen, benötigen im Spiel mehr Zeit und sind anstrengender, da die Spieler öfter vor Entscheidungen gestellt werden. Die größere Menge an ritualisierten Handlungsabläufen schränkt das freie Rollenspiel stärker ein, was jedoch zum Teil durch die Vermischung von Brett- und Rollenspielelementen wieder aufgehoben wird. Dies bringt gleichzeitig eine größere Gleichberechtigung der Spieler mit sich. Diese Tendenz findet sich z.B. in MIDGARD wieder.

Mit wachsender FRSp-Erfahrung der Teilnehmer wird natürlich auch ein Spiel mit sehr vielen Regeldetails flüssiger. Je umfangreicher ein FRSp-System und je größer die Spielerfahrung, desto mehr ist ein Spielleiter dazu in der Lage, eine Fantasywelt – und damit den historischen, geographischen und kulturellen Hintergrund des Spiels – genauestens auszuarbeiten. Das Moment des aktiven, aktionsreichen Spiels hat demgegenüber nicht mehr dieses große Übergewicht: Handlung und Hintergrund werden gleichberechtigter.

Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung der einzelnen Systeme weisen doch alle gegenüber anderen Spielen eine hohe Komplexität der Regeln wie des Spielablaufs auf. Das ist ein weiterer Anhaltspunkt für die Theorie von der Intellektualität von FRSp.


Für Spieler ist der Einstieg aber leicht, da nur Grundprinzipien bekannt sein müssen, wie z.B. Würfelprozeduren und die Bedeutung und Anwendung der Eigenschaften und Fähigkeiten der eigenen Figur. Wozu sollte der Spieler Simbas, des mit allen Wassern gewaschenen Glücksritters, wissen, wie man einen Zauberspruch benutzt? Die Magie überläßt er dem Spieler des Jungzauberers Eukledos, der seinerseits die Handhabung vieler Fertigkeiten, die Geschick erfordern, nicht zu lernen braucht. Spieler eignen sich also die nötigen Regeln nach und nach an – wenn sie unterschiedliche Figuren spielen oder bestimmte Situationen das erste Mal auftreten.

Ähnlich ist es für den Spielleiter. Er sollte zwar einen groben Überblick über alle Regeln haben, braucht jedoch für die Vorbereitung und Durchführung eines Spieltermins nur die Regelteile zu kennen, die für diesen Termin wichtig sind. Regeln für die Wirkung von Zaubersprüchen unter Wasser sind ziemlich uninteressant für ein Abenteuer in der Wüste. Desgleichen gibt es gerade bei FRSp-Systemen, die Wert auf genaue Simulation legen, viele Regelteile, deren Anwendung stark von der individuellen Spielweise einer Gruppe abhängt. Auf meiner Spielwelt gibt es keine Orks (die ansonsten die Bestiarien aller FRSp-Regelwerke bevölkern). Also gibt es auch keine Halb-Orks, Viertel-Orks, Ork-Lager und -Stammeskulturen. Regelteile bezüglich dieser Wesen brauche ich nicht.


Sowohl Spieler wie Spielleiter treffen also eine Auswahl. Und nicht nur das, es werden oft Regeln abgeändert oder gar neu erfunden. Die Autoren der Regelwerke empfehlen dies auch ausdrücklich. Meine Umfrage ergab, daß 43% aller FR-Spieler in wenigstens einer Gruppe spielen, die die Originalregeln gekürzt und mit eigenen Erweiterungen versehen hat. (8% spielen nach gekürzten, 20% nach nur erweiterten Originalregeln.) Das bedeutet, daß FRSp-Regeln nur innerhalb eines Spieltermins bindend sind. Zwischen den Terminen steht es den Teilnehmern frei, sie zu ändern und ihren Bedürfnissen anzupassen. Beim FRSp bedarf es also nicht nur keiner einheitlichen und starren Regelauslegung, sondern es ist sogar nötig, daß sich jede Gruppe mit der Zeit ihre ganz eigenen “Hausregeln” schafft, damit sich alle Teilnehmer wohl fühlen und kein Frust aufkommt. Das führt nun nicht dazu, daß jede FRSp-Gruppe eine verschworene Geheimgesellschaft ist, deren Teilnehmern es unmöglich ist, jemals in die Regeln einer anderen Gruppe einzusteigen. Wie schon gesagt ist es ja die Eigenart von FRSp-Regeln, nur den Verhaltensrahmen abzustecken, so daß für die Spieler viel mehr vom Ausfüllen der eigenen Rolle abhängt als von der Regelmechanik.

Dieses “Spielen mit dem Spiel”, genauer seinen Regeln, muß jedoch gemeinsam geschehen. Alle Beteiligten müssen einer Änderung oder Neueinführung zustimmen, da sich späterhin alle daran halten sollen. Aufgrund des größeren Überblicks und Hintergrundwissens über “seine” Welt hat der Spielleiter natürlich den stärksten Einfluß dabei. Aber auch er kann nicht in absolutistischer Herrschermanier Regeln einführen, die einzelnen oder allen Spielern nicht gefallen. Diese werden dann nämlich schnell die Lust am Spiel verlieren und ihm fürderhin fernbleiben. Es muß also eine Regeldiskussion zwischen allen Teilnehmern stattfinden, wobei sich Spielleiter und Spieler wechselseitig beeinflussen. Über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflußt ebenso eine neue bzw. geänderte Regel das Verhalten aller Beteiligten. Es findet eine kreative Wechselwirkung zwischen Spielleiter, Spielern und (regulativen) Regeln einer FRSp-Gruppe statt:

Schaubild: Kreative Wechselwirkung

FRSp-Regeln ermöglichen (und regen an) eine metakommunikative Regeldiskussion. Es wird eine Kreativität auf anderer Ebene als der Spielwelt gefördert: Manipulation nicht nur im, sondern auch mit dem Spiel.



Raum 3.4. Was, unser Zauberer ist chaotic evil?!
oder: Das Weltbild von FRSp

Bleiben wir noch ein wenig bei den Regeln. Ihre Aufgabe ist es, die Grundprinzipien für die Simulation einer Fantasywelt zu liefern, einschließlich der Beschreibung ihrer Bewohner, deren Handlungsmöglichkeiten und persönlicher Entwicklung. Die Herangehensweise an diese Simulation ist eine sehr naturwissenschaftlich-rationale. Vieles wird mit Zahlen dargestellt: menschliche Eigenschaften von Stärke bis zur persönlichen Ausstrahlung, die Erfahrenheit in Fertigkeiten von Magie bis zu Verführen und Menschenkenntnis. Sogar das Verhalten von Fantasypersonen wird in Zahlen gefaßt. Es gibt Moralwerte, Verhaltensindizes und einen Wert für Selbstbeherrschung.

FRSp bieten ein Paradebeispiel für eine mechanistische Weltsicht. Was im Leben wichtig ist, wird benennbar, berechenbar und damit beherrschbar gemacht. Letzteres umso mehr, je größer die Erfahrung der Spieler ist und je höher die Grade ihrer Figuren sind. Sehen Sie sich eine Gruppe wackerer Zwerge an, deren Versuche, eine ganze Stadt vor dem Zugriff einer bösen Macht zu retten, vor einer 4 Meter breiten Felsspalte jäh zum Stehen kommen. Alle wissen, daß Helli Goldgrapsch ein guter Springer ist. Hellis Spieler weiß, daß er Springen +18 beherrscht. Nachdem er seine Erfolgschance von 75% ausgerechnet hat, läßt er den Zwerg springen. Helli befestigt drüben ein Seil, damit die anderen nachkommen können. Bald darauf wird die Gruppe von einer Ork-Bande überfallen. Die Zwerge suchen nicht das Weite, da sie schon Bekanntschaft mit Orks gemacht haben, und ihre Spieler wissen, wieviel hit points (= Lebensenergie) ein Ork hat, wie groß seine Trefferchance und Rüstungswert im Kampf sind. Desweiteren kennen sie die Zahlen ihrer Figuren, so daß Helli Goldgrapsch, Goro Eisenfaust und Farin Haudrauf unter der Führung von Sir Thorin Stahlhammer ihren Zwerg stehen.

FRSp lassen gewissermaßen den alten Mythos in moderner Fassung wiederauferstehen, der besagt, daß man nur den wahren Namen eines Wesens oder Dinges zu kennen braucht, um Macht über es zu haben. (Und Mythen sind ja schließlich die thematische Grundlage dieser Spiele...)


Beherrschbarkeit hat mit Macht zu tun. „Derjenige Aspekt der Gesamtkultur, der mit größter Wahrscheinlichkeit in Spielen nachgebildet wird, ist der Aspekt der Machtbeziehungen.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 70) Inwieweit trifft das auf FRSp zu? Nun, es läßt sich nicht leugnen, daß auf der Ebene der Teilnehmer der Spielleiter als einzelner eine gewisse Macht über die untereinander gleichgestellten Spieler hat. Es ist “seine” Welt, in der ihre Figuren leben, auch wenn viele Anregungen von ihnen oder aus dem Spielverlauf kommen. Er hat die Macht des Besitzenden, wie – und das ist bei FRSp wichtiger und deutlicher – die Macht des Wissenden. Er hat den Überblick über das Geschehen auf der Spielwelt. Überhaupt sind ausschließlich Erfahrung und Wissen der Spieler Macht in der Spielsituation. Denn dadurch wird das Verhalten der Figuren und damit auch deren körperliche Entwicklung gesteuert.


Wie sieht eigentlich das Leben einer solchen Figur, eines “hypothetischen Helden” aus? Die Gesellschaften der Spielwelten sind größtenteils angelehnt an Modelle aus der Vorgeschichte, der Antike oder des frühen europäischen Mittelalters. Es finden sich aber auch Sozialstrukturen, die denen moderner Staaten gleichen. Das AD&D-DMG z.B. bietet auf den Seiten 88ff eine ganze Menge Hinweise zum Konstruieren von Gesellschaften.

Sehr gegenwartsnah mutet auf jeden Fall die weite Verbreitung der modernen Geldwirtschaft an, die in FRSp-Regeln immer vorgeschlagen wird (ich kenne keine Ausnahme). Materieller Reichtum ist die Grundlage der Karriere einer Figur. Das deutlichste Beispiel bietet D&D, wobei Erfahrungspunkte größtenteils auf der Basis der Gleichsetzung: Zahl der (errungenen) Goldstücke = Zahl der Erfahrungspunkte erlangt werden. Diese Regelung findet sich mit unterschiedlicher Gewichtung in vielen FRSp-Systemen wieder. Also: Geld ist nötig zum Karrieremachen! Je finanzkräftiger eine Figur ist, desto schneller erklimmt sie die Stufen bzw. Grade der Karriereleiter. Die Parallele zu unserer heutigen Leistungsgesellschaft ist nicht schwer zu ziehen, und solcher Aufstieg wird durchaus als wichtig erachtet. Ein nicht geringer Teil der Regeln befaßt sich mit ihm, bietet er doch – neben der Entwicklung einer persönlichen Geschichte der Figuren – den “Gewinn” bei einem fortlaufenden FRSp.


Auf den ersten Blick erstaunlich ist dagegen die Art und Weise, in der die Figuren Karriere machen und mächtiger werden. Sie führen nämlich einen ziemlich ungesicherten Lebenswandel. „Die große Masse der Bevölkerung der Spielwelt bestreitet ihren Lebensunterhalt auf normale Weise. Diese sogenannten Zivilisten oder normalen Menschen werden niemals daran denken, sich mit dem Schwert in der Hand oder Zaubersprüchen auf den Lippen in Gefahr zu begeben, um an Reichtum und Bedeutung zu gewinnen. Dies bleibt einer kleinen Gruppe besonderer Individuen vorbehalten, die im Rahmen dieser Regeln Abenteurer genannt werden.“ (MIDGARD DFR, 1985, S. 7) Diese Abenteurer führen mehr oder weniger ein obdachloses Wanderleben, sind Tagelöhner in Sachen Schatzsuche und Menschenrettung (Zwergenrettung, Elfenrettung etc.), Söldner und Stuntmen. Selbst, wenn sie schon berühmt oder berüchtigt sind, leben sie kein etabliertes und gesichertes Leben in Hütte oder Palast. (Mir ist nur eine FRSp-Figur bekannt, die heiratete und prompt aus dem aktiven Abenteurerleben ausschied.) Sie sind fast ständig auf der Durchreise, oft arbeitslos und auf der Suche nach gefährlichen Jobs ohne Kranken- oder Sozialversicherung. Zum Teil verfolgen sie auch eigene Ziele, aber mit den gleichen Begleitumständen wie geschildert. Immerhin verdienen sie ihren Lebensunterhalt mit nicht (oder wenig) entfremdeter Arbeit. Selbst ein Auftrag einer fremden Person bietet eigentlich nur den Anlaß zu einem Abenteuer, bei dem nach eigener Planung der Gruppe, mit eigenen Händen bzw. Lippen, auf eigenes Risiko und in die eigene Tasche gejobbt wird.

Ein solches Leben unterscheidet sich nun wirklich stark vom Alltagsleben der Spieler! Es erinnert vielmehr an “Marlboro-Country”, Urlaubsangebote wie “mit dem Planwagen durch Irland”, oder die “Camel-Trophy-Rallye”. Kurz: die Höher-Schneller-Weiter-Ideologie vom Erfolg des Tüchtigen, die uns tagtäglich in der Werbung von der Mattscheibe entgegenflimmert.

Anhand des oben erwähnten Beispiels der Zwergengruppe kann hier noch ein weiteres Merkmal vieler FRSp-Weltbilder erklärt werden, das direkt den literarischen Vorlagen entspricht: Rassismus. Orks sind Orks, also dumm und gemein. Sie verstehen nur die Sprache des Schwertes. Man kämpft mit ihnen oder geht ihnen aus dem Weg. Das gleiche trifft für viele Wesen oder Monster zu, deren Intelligenzwerte bezeichnenderweise ziemlich niedrig liegen. Der Sexismus der Fantasy-Vorlagen findet sich beim FRSp allerdings neben Illustrationen der Regeln und käuflichen Abenteuer hauptsächlich in den Köpfen der meist männlichen Teilnehmer.

Zusammenfassend gesagt, finden sich im Weltbild von FRSp miteinander vermischt und vereinfacht Strukturen gegenwärtiger und historischer Wirklichkeit, romantisch verbrämt mit der verbreiteten Ideologie unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft von der Heranbildung einer Elite durch persönliches Erfolgsstreben (vom Tellerwäscher zum Millionär, jeder ist seines Glückes Schmied usw.). Die Trennung zwischen Wunsch und Wirklichkeit wird im kindlichen Wahrnehmungsschema aufgehoben.


Ein wichtiger Aspekt soll zum Schluß genannt werden. Es ist die eindeutige Festlegung auf klare Trennung von Gut und Böse auf einer Spielwelt. (Damit sind absolute Werte gemeint, die über das gruppenbildende und -festigende Schema: gruppenintern oder ihren Zielen förderlich = gut; gruppenextern oder ihre Ziele behindernd = böse, hinausgehen.) Sie kommen deutlicher zutage bei einfachen Systemen und bei Anfängergruppen, ist aber nie völlig aufgehoben. Die einfache – Gut/Böse-Struktur einer Fantasywelt ist im Spiel eine große Erleichterung. Sie ermöglicht eine klare Freund-Feind-Charakterbestimmung. Am eindeutigsten wird sie in den beiden Systemen D&D bzw. AD&D. Hier bekommt jedes Wesen – Spielerfigur, übriger Bewohner, Tier oder Pflanze (!) – eine Gesinnung zugeordnet (aus drei bzw. neun möglichen), welche die Grundprinzipien ihrer Ethik und Moral festlegt.

Diese Eigenart von FRSp ist eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits meine ich, daß sie ein gefährlich vereinfachendes Schubladendenken, das sich zum Beispiel im Aufbau von Feindbildern in der heutigen Politik zeigt, sehr gut widerspiegelt. Andererseits ist sie jedoch auf der Spielwelt – im Gegensatz zur Wirklichkeit – real und gültig, so daß sie den Unterschied zwischen FRSp und den komplexen, dynamischeren Strukturen unserer Welt deutlich macht.




Verliesebene vier – Spielpädagogische Betrachtung

Auf dieser Ebene erfahren Sie etwas über einige pädagogisch bzw. spielpädagogisch wichtige Aspekte von FRSp. Die zwei wichtigsten Ziele der Spielpädagogik nach Baer (1982) sind, daß 1. mehr und besser, d.h. beispielsweise selbstbestimmter oder phantasievoller gespielt wird, und daß 2. mit Hilfe von Spielen besser gelernt wird. „Weil Spiel eine Tätigkeit ist, die subjektiv nicht mit bestimmten Zielen verbunden wird, das Spiel selbst zwar eine Wirkung, aber keine Ziele beinhaltet – deshalb kommt das Ziel immer von außen: vom Pädagogen, von der spielenden Gruppe, von der Institution, von der Gesellschaft. Die Spielpädagogik selbst ist nur eine Methodenlehre. Daher kann man mit Spiel auch fortschrittlich oder rückschrittlich, Menschliches oder Unmenschliches lernen.“ (Baer, 1982, S. 9) FRSp sind ein Produkt der Unterhaltungsindustrie und werden überwiegend in der Freizeit zur Unterhaltung gespielt. Dennoch haben sie natürlich pädagogische Nebenwirkungen, um die es im Folgenden gehen soll. Informationen und Erfahrungen zum pädagogisch/ therapeutischen Einsatz von FRSp finden Sie in Raum 6.4.



Raum 4.1. Ihr habt zwei Minuten, Euch was Schlaues einfallen zu lassen.
oder: Voraussetzungen für das Spielen von FRSp

Teilnehmer eines FRSp existieren nur für die Dauer des Spiels zugleich als Spieler und Figur(en). Als Spieler bewahren sie ihre Identität, während sie die Rollen verschiedener Figuren übernehmen und wechseln können. „Die grundlegende psychische und soziale Voraussetzung zum Rollenspiel ist die Fähigkeit, von der eigenen Person Abstand zu nehmen, um sich in die Erlebnis- und Verhaltensweisen einer anderen Person hineinzuversetzen (role taking). Eine weiterreichende Qualifikation ist die des role making, der persönlichen Ausgestaltung einer Rolle entsprechend den eigenen Bedürfnissen und Interessen. Beide Fähigkeiten werden innerhalb des Rollenspiels bei der Übernahme der Rolle und bei der Interaktion mit den Rollenpartnern sowohl vorausgesetzt als auch weiterentwickelt.“ (Krappmann, 1971, zitiert nach Hartung, 1977, S. 47) Besonders der zweite Punkt ist im FRSp wichtig. Da es eine sehr komplexe Spielform ist und Rollenmuster vorgibt, die thematisch weit von der Alltagswelt entfernt sind, wird das role making in hohem Maße vorausgesetzt.


Das jüngste Teilnehmeralter bei FRSp liegt meiner Umfrage zufolge bei 14 Jahren. Das bezieht sich auf Gruppen Gleichaltriger. Mit einem erwachsenen Spielleiter können erfahrungsgemäß schon 10jährige spielen. Wie läßt sich das erklären?

Nach Sutton-Smith ist es Kindern erst ab einem bestimmten Entwicklungsalter möglich, soziale Rollen zu erkennen, sie von der eigenen Identität zu unterscheiden und einzunehmen. Angelehnt an Piagets Darstellung der Entwicklung der Logik, beschreibt er die Entwicklung sozialer Interaktionen im Spiel. Er unterscheidet dabei drei aufeinanderfolgende Entwicklungssequenzen bzw. Typen: primäre, sekundäre und tertiäre Interaktionen.

Beim 1. Typ ist es den Spielern bereits möglich, nacheinander gegensätzliche Rollen einzunehmen, obwohl sie immer dieselben Persönlichkeiten bleiben. Ein klarer Identitätsbegriff ist aber (nach Sutton-Smith) vor dem 7. Lebensjahr noch nicht vorhanden. Die Handlungen der einzelnen Spieler sind noch nicht aufeinander abgestimmt und unreflektiert. Spiele dieses Typs können von Kindern ab 5-6 Jahren gespielt werden.

Beim Typ der sekundären Interaktionen werden die primären Interaktionen des 1. Typs von den Spielern durch Zeichen oder Absprachen koordiniert – sowohl im Spiel, was eine offene Kooperation bedeutet, wie auch außerhalb (z.B. mit Abzählreimen). Solche Spiele finden sich bei Kindern ab 9-10 Jahren.

Spiele vom Typ 3 schließlich sind typisch für Kinder ab 11-12 Jahren. Sie ermöglichen und erfordern tertiäre Interaktionen. Diese „haben dieselbe koordinative Zielsetzung wie sekundäre Interaktionen. Sie sind jedoch nicht für die Gesamtgruppe und alle Spieler von Bedeutung, sondern richten sich auf eine Subgruppe innerhalb oder außerhalb der Mannschaft. Es läßt sich daher von tertiären internen und tertiären externen Interaktionen sprechen.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 180) Sutton-Smith findet solche Spiele vorwiegend im Sport wieder. Er teilt sie nochmals in drei Stufen ein, von denen die höchste sich durch differenzierte Rollen innerhalb der Mannschaft bzw. Spielgruppe auszeichnet.

Dieser Stufe ordne ich FRSp zu. Dort hat jede Figur aufgrund ihrer Klasse (Zauberer, Glücksritter, Streuner, Druide...) und ihrer persönlichen Schwächen und Stärken bestimmte Aufgaben. Der geschmeidige Simba muß fast immer herhalten, wenn es ums Vorausspähen und Auskundschaften des Unbekannten geht. Die Spieler müssen die Handlungen ihrer Figuren miteinander absprechen, wobei es von den Erfordernissen der Situation und den Eigenschaften der Figuren abhängt, ob an einer bestimmten Aktion alle beteiligt sind oder nur einige Spezialisten (interne tertiäre Interaktionen).

Auch außerhalb des eigentlichen Spiels finden Absprachen statt über Regeln und die Wünsche von Spielern und Spielleiter. Letzterer hat auch während eines Spieltermins die eigentlich spielexternen Rollen des Schiedsrichters, Koordinators und Beurteilers inne, in denen er mit den Spielern interagiert (externe tertiäre Interaktionen).

Nach Piaget lernen „die meisten Kinder ungefähr im Alter von 11 Jahren [...], Regelumkehrungen vorzunehmen. Das bedeutet, daß sie in der Lage sind, Spiele so abzuändern, daß sie in ihrer Situation und bezogen auf die Merkmale der Gruppe gespielt werden können.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 55) Dieser Punkt ist Ihnen ja schon im Raum 3.3. als typisches und notwendiges Merkmal von FRSp begegnet.

Achtung! Die obigen Ausführungen stützen sich auf ältere Untersuchungen. Die Altersangaben – insbesondere des Piagetschen Materials – sind also mit Vorsicht zu genießen. Im allgemeinen kann man sie heute wohl um 1-2 Jahre nach unten verschieben.

Eine weitere Fähigkeit, die für FRSp vorausgesetzt und im Spiel weiterentwickelt wird, ist Kooperation. Klippstein/ Klippstein (1978) kommen zu dem Ergebnis, daß kooperatives Verhalten nicht so sehr vom Reifungsprozeß der Kinder abhängig ist. Maßgebend für den Erwerb kooperativer Verhaltensstrategien sei vielmehr die soziokulturelle Umgebung, der Erziehungsstil und die sozialen Erfahrungen der Kinder miteinander. Sie fanden heraus, daß schon bei 3jährigen kooperatives Verhalten trainierbar ist. Untersuchungen zur Geschlechts- und Schichtspezifität führten hierbei zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die jüngste von ihnen ausgewählte Untersuchung von Henningsen (1973) zeigt, daß antiautoritär erzogene Kindergartenkinder deutlich bereiter kooperative Konfliktlösungen anboten als konventionell („verdeckt autoritär“) erzogene. (Mehr zum Thema Kooperation in Raum 4.3.)

Auf eine ähnliche Art wichtig sind auch kommunikative, imaginative und kreative Kompetenz von FR-Spielern. Auf deutsch: Die Fähigkeit, sich darzustellen und mitzuteilen, Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, schnell oder auf ungewöhnliche, schöpferische Weise Situationen entwerfen zu können bzw. mit ihnen fertig zu werden.

Schließlich ermöglicht es nur die Sprache, daß Bleistiftlinien auf einem Blatt Papier zu einer kleinen elfischen Höhle werden, deren Wände von den goldenen und silbernen Netzen edelsteinartiger Spinnen bedeckt sind. Wenn Thorin, Sybilla und Kanor (der schöne Kämpfer) die Höhle betreten, müssen sich ihre Spieler das Bild der Situation vorstellen können, um dann zu entscheiden, was die Figuren mit dem marmornen Quellbecken und dem verzierten Helm am äußersten Ende des funkelnden Raumes anfangen. Ihre Ideen teilen sie sich untereinander und dem Spielleiter mit, welcher sich die Auswirkungen des Verhaltens vorstellt und sie an die Spieler weitergibt. Ein (ganz nach der Manier von FRSp vereinfachtes) Schaubild sieht so aus:

Schaubild: Interaktive Kompetenzen

Imaginative Kompetenz bedeutet auch die Vorstellung einer zu spielenden Rolle, das Sich-hineinversetzen in sie. Diese Fähigkeit ist also wichtig für das role taking. Für das schöpferische Ausgestalten einer Fantasyfigur und ihres Charakters – das role making – bedarf es noch dazu der kreativen Kompetenz ihres Spielers.

Schon in Raum 1.1. ist die Möglichkeit angesprochen worden, Hintergrundgeschichten für die Figuren zu erfinden. Hilfestellung dabei geben z.B. die Regeln für Berufsfähigkeiten. „Der Hauptzweck, den die Berufe im Rahmen des MIDGARD-Regelsystems haben, ist es, die Spieler anzuregen, sich mehr Gedanken über die Vorgeschichte und den Charakter der Spielfigur zu machen.“ (MIDGARD II, 1983, S. 29) D.h. auch Spieler üben ihre schriftstellerischen Qualitäten und entwerfen Teile der Fantasywelt, indem sie kurze Geschichten schreiben oder erzählen.

Für alle bisher genannten Eigenschaften gemeinsam gilt, daß sie auf der einen Seite zu einem gewissen Grad vorausgesetzt werden, um ein FRSp zu spielen, daß andererseits das Spiel ermöglicht, sie weiterzuentwickeln. Bei zwei Punkten trifft jedoch nur der erste Aspekt zu. Offensichtlich wichtig ist (wenn’s auch banal klingt), daß FRSp-Teilnehmer lesen und schreiben können, daß diese Spiele aber keine wirkungsvolle Lese- und Schreibhilfe sind.

Am wichtigsten von allen aber ist die Fähigkeit zur klaren Unterscheidung zwischen Spielwelt und Wirklichkeit. Kindern, die von der Entwicklungspsychologie noch dem sogenannten “Märchenalter” bzw. der “mythisch-magischen Lebensphase” zugeordnet werden (ca. 4-10 Jahre), wird dies nur schwer möglich sein. Dieser Lebensabschnitt wird bezeichnet als „»Lesealter eines faktisch noch ungeschiedenen magischen Realismus mit dem bloß strichhaften einfachen Menschenbild, das auf Kontrastierung angelegt ist. – Die Sphäre des Wunderbaren und der Realität werden nur fallweise als geschieden erfahren.« Das Kind, ließe sich sagen – jedenfalls wenn man diese etwas verschwommene Terminologie wohlwollend interpretiert – erfährt in diesem Alter die umgebende Wirklichkeit nicht in ihren tatsächlichen Dimensionen, sondern verknüpft seine Erfahrungen gemäß seinen Wünschen und Bedürfnissen.“ (Richter/Merkel, 1974, S. 89) Die Trennung von Phantasie und Wirklichkeit wird mit der Zeit erlernt. Aus Ihrer eigenen Erfahrung werden Sie wissen, daß Jugendliche und Erwachsene das ziemlich gut beherrschen.

Doch warum soll das so wichtig sein, fragen Sie sich vielleicht? Dazu noch einmal der Spielpädagoge Baer: „Spiel liegt auf einer mittleren Abstraktionsebene: Es ist keine direkte Wirklichkeitserfahrung, es ist aber erheblich konkreter als die Vermittlung von Erfahrungen durch Bücher oder Vorträge. Beim Selbsterproben lernt der Mensch viermal soviel wie nur beim Zuhören.“ (1982, S. 9) Wie die im FRSp erfahrene (Spiel-) Wirklichkeit aussieht, konnten Sie ja im letzten Raum sehen. Die gelernten Verhaltensmuster und Lösungsstrategien der Figuren sind natürlich der Struktur der Spielwelt angepaßt. Es ist dennoch äußerst gefährlich, Weltbild und/oder Verhaltensweisen kritiklos und unreflektiert auf die wirkliche Lebensumwelt der Teilnehmer zu übertragen/ übernehmen. Dies ist auch nicht das Ziel von FRSp. Insbesondere das Fantasy-Thema weist auf die erklärte Absicht hin, die Teilnehmer während des Spiels von der Wirklichkeit zu entfernen, sie in eine von ihrem Alltag klar getrennte “Anderswelt” zu entführen. Die thematische Ansiedlung des Spielgeschehens ist das wichtigste Hilfsmittel, der Gefahr der Vermischung von Spiel und Wirklichkeit zu begegnen.

Das ist der Grund, warum ich Rollenspiele mit Themen wie: Vietnamkrieg (Recon®), 2. Weltkrieg (Behind the Enemy Lines®), moderne militärische Aktionen (Delta Force®), militaristische neuzeitliche Spionage (Top Secret®, Danger International®) und Westeuropa nach einem begrenzten Atomkrieg (Twilight 2000®) strikt ablehne!



Raum 4.2. Spricht hier jemand Zwergisch?
oder: Kommunikation und Interaktion in FRSp

Versetzen Sie sich im Geiste einmal in die Schankstube der Wirtschaft Zur Goldgrube. Es ist Freitagabend, der Raum ist gerammelt voll mit Landvolk und dem Duft von Schweiß, Bier und Eintopf. Ein zweitklassiger Barde singt drittklassige Balladen. Um einen Tisch sitzen Eukledos, Sybilla, Thorin und Co. Von überallher tönen Rufe, Lachen und Gesprächsfetzen.

Am FR-Spieltisch wird das alles verbalisiert, sowohl als Beschreibung als auch in direkter Rede. Es reicht, wenn der Spielleiter sagt, daß der Barde schräg singt und ein Stimmengewirr im Gasthaus herrscht. Aber den Zwergenwitz, den ein Gast laut erzählt, kann er in wörtlicher Rede wiedergeben. Es entwickelt sich ein Wortgefecht unter kräftiger Zuhilfenahme der Körpersprache. Vielleicht muß sogar die Schankstube auf einem Blatt Papier skizziert werden, wenn die beiden Streithähne handgreiflich werden wollen. Dann wird auf der Teilnehmerebene wieder mehr indirekt beschrieben, was die Figuren tun und welche Tische umstürzen.

An diesem Beispiel können Sie schon erkennen, wie wichtig spontane und direkte Interaktion und Kommunikation im FRSp sind. Dabei soll gleich erwähnt werden, daß beides hierbei nicht getrennt werden kann, da jegliche Interaktion auf der Spielwelt einer Kommunikation zwischen den Teilnehmern entspricht. Um in unserem Beispiel eine ängstliche Figur von der Theke der Goldgrube ins Freie zu bringen, genügt nicht das stumme Verschieben eines Steines auf einem Spielplan, sondern dieser Ortswechsel muß beschrieben werden, einschließlich der Fortbewegungsart (aufrecht oder auf allen Vieren, je nachdem, wieviele Bierkrüge inzwischen durch den Raum fliegen) und des Verhaltens der Figur auf dem Weg.


Ballstaedt unterscheidet strategische Interaktionen, die den Spielregeln folgen, von sozioemotionalen Interaktionen, die parallel dazu auftreten. In letzteren „treten all die Momente auf, die die Realität zwischenmenschlicher Beziehungen ausmachen: Zuneigungen und Abneigungen, Bedürfnisse und Enttäuschungen, Aggressionen und Vorurteile, Rückzüge und Angriffe, Projektionen und Übertragungen, Vertrauen und Mißtrauen, Verstehen und Mißverstehen.“ (Ballstaedt, 1976, S. 66f) Im FRSp – wo rein strategische Interaktionen allenfalls in den kurzen Phasen ritualisierter Aktionen/ Interaktionen auftreten – kann diese Unterscheidung nicht getroffen werden, da hauptsächlich die sozioemotionalen Interaktionen spieltragend und -entscheidend sind. Das aktive Spielen von FRSp baut im Grunde auf einer Dialogstruktur auf. Im wechselseitigen Gespräch zwischen Spielern und Spielleiter werden erdachte Orte und Handlungen für alle erfahrbar gemacht. Voraussetzung dafür ist die Sprache. Sie ermöglicht die konstitutiven Regeln, welche verlangen, daß der alltägliche Zusammenhang Wahrnehmung –> Bezeichnung im Spiel durch den Zusammenhang Bezeichnung –> Vorstellung ersetzt wird.

Aber Kommunikation ist nicht nur Grundlage für die Imagination, sondern wird selber (per konstitutiver Regel) von der Spielerkommunikation zur Figurenkommunikation. Wenn Thorins Spieler im obigen Beispiel den Spielleiter anschnauzt: „Du bartlose, langbeinige Mißgeburt! Mach das noch mal, wenn du dich traust!“, dann ist das natürlich Thorins Erwiderung gegen den spöttelnden Gast im Fantasy-Wirtshaus. In solchen Gesprächen – wo Spielwelt und Wirklichkeit sich am stärksten vermischen – wird schauspielerisches und Improvisationstalent (kreative Kompetenz) der Teilnehmer stark gefordert und gefördert. Beim FRSp sind die Spieler selbst verantwortlich für ihre Figuren. Sie müssen direkt und ohne regulative Vorgabe miteinander kommunizieren, d.h. sie können keine Verantwortung auf Regeln schieben, die Kommunikation ritualisieren. (Schauen Sie noch mal in Raum 3.2.) Das ist eine ziemlich hohe Anforderung und eine gute Übungsmöglichkeit. Die Spieler sind ganz allein auf ihre Ideen und darstellerischen Fähigkeiten angewiesen, wenn ihre Figuren gerade einen Flaschengeist befreit haben, der jetzt darangehen will, die Welt zu zerstören, und sie den Spielleiter in der Rolle dieses Geistes dazu bewegen wollen, zurück in die Flasche zu kehren.

In vorhergehenden Räumen haben Sie des öfteren schon von geplantem Vorgehen der Spieler gehört. Im FRSp zieht eine Gruppe von Figuren auf Abenteuer aus, so daß es meistenteils zu gemeinsamen Handlungen kommt. Um solche Aktionen vorzubereiten oder in einer hektischen Situation schnell zu koordinieren, müssen sich die Spieler absprechen, miteinander kommunizieren. Dabei geht es darum, Ideen und Absichten genau und verständlich mitzuteilen, auf die anderen Mitspieler einzugehen, zuzuhören, kurz gesagt: Sie können sich in sachlicher, fairer Diskussion üben. Kommunikation dient nicht negativen Zwecken (Verwirrung des Gegners) oder wird ganz unterbunden wie in Wettbewerbsspielen. Bei FRSp wird viel geredet, weil normalerweise keine geheimen Planungen einzelner verraten werden können. Allerdings sind nicht alle Spielergruppen so kooperativ, und Spieler von eigennützigen Figuren entwickeln verschiedenste Methoden, heimlich mit dem Spielleiter zu kommunizieren, ohne daß die übrigen Spieler etwas davon erfahren.

Außerhalb der eigentlichen Spielzeit kommt es zur Metakommunikation über Spielverlauf, -regeln und -ereignisse. Über Regeldiskussionen ist ja schon in Raum 3.3. ausführlich geschrieben worden. Daneben ist es aber auch nötig, Spieler, die neu zu einer Gruppe stoßen oder an einigen Terminen nicht teilnahmen, eine mehr oder weniger ausführliche Erzählung der Ereignisse zu geben. Das hängt mit dem Endloscharakter von FRSp zusammen, der dadurch zustande kommt, daß eine ganze Reihe von Spielterminen aneinander anknüpfen und einen chronologischen Ablauf von Ereignissen simulieren. Es ist also wichtig für die Teilnehmer, daß das Gedächtnis ihrer Figuren keine Lücken aufweist, damit sie sich in der aktuellen Situation angemessen verhalten können. Dies hat übrigens den Nebeneffekt, daß aufgrund einer starken Identifikation mit den Figuren Spieler sich über deren Abenteuer unterhalten können, wie über eigene Urlaubserlebnisse – was für Nichteingeweihte immer sehr seltsam klingt.

Alles in allem ist FRSp eine sehr kommunikative, gesellige Tätigkeit, was auch für viele Teilnehmer ein wichtiger Spielgrund ist. (Sehen Sie zu dem Punkt in Raum 5.2. nach.)



Raum 4.3. Priester, heil mich!
oder: Kooperation im FRSp

Zum Einstieg in diesen Raum werden Ihnen zwei gegensätzliche menschliche Verhaltenstendenzen vorgestellt: Da ist auf der einen Seite das wettbewerbsorientierte Verhalten. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß die Interaktionspartner zwar gleiche Ziele verfolgen, diese aber nur erreichen können, wenn die anderen es nicht schaffen. Interaktion und Kommunikation dienen der Behinderung bzw. Verwirrung anderer Personen.

Dem gegenüber steht das kooperative Verhalten. Es „ist dadurch bestimmt, daß individuelle Ziele im Rahmen eines gemeinsamen Zieles beibehalten werden. Dabei erleichtern die Individuen anderen das Erreichen individueller Teilziele, sofern diese nicht im Widerspruch zum gemeinsamen Ziel stehen.“ (Klippstein/ Klippstein, 1978, S. 13) Hier behält also jeder seine Ansichten bei, die sich mit denen der anderen Beteiligten überschneiden. Alle unterstützen sich darin, die einzelnen Teilziele zu erreichen, weil dadurch auch das eigene Ziel besser erreicht wird. M. Deutsch stellt den fließenden Übergang beider Verhaltensformen folgendermaßen dar:

Grafik: Kooperative und kompetitive Verhaltens- weisen Feindlich: Bestreben, den Gewinn der Interaktionspartner zu
minimieren
Rivalisierend: Hoher eigener Erfolg bei möglichst geringem Erfolg
der Interaktionspartner
Individualistisch: Maximierung des eigenen Gewinns
Egalitär: Gleicher Erfolg für alle Interaktionspartner, ohne
daß der Erfolg maximiert wird
Kollektivistisch: Maximal erfolgreiches Abschneiden aller
Interaktionspartner
Altruistisch: Maximierung des Gewinns der Interaktionspartner
Motivationale Orientierungen bei Interaktionspartnern nach M. Deutsch (1976)

Kooperatives Verhalten stellt Ansprüche an die Spieler: Sie müssen sich absprechen, Ideen der anderen berücksichtigen, eigene Interessen einbringen und mit denen anderer abwägen, sich gegenseitig bestätigen und Kritik annehmbar formulieren. Die Priesterin Sybilla heilt den erschöpften Eukledos, der mit seiner Magie hinter der Tür eine Falle spürt, die von Simba geschickt entschärft wird, während Kanor Schmiere steht.


Sowohl Kooperation als auch Wettbewerb finden sich in der dritten Verhaltensform, dem koalitiven Verhalten wieder. Dies muß erwähnt werden, weil es in FRSp wohl am häufigsten auftritt. Koalitiv verhalten sich Leute, die innerhalb einer Gruppe kooperieren, nach außen aber mit anderen Gruppen oder Personen im Wettbewerb stehen. Beer/Thole (1985) sprechen von einer Verschiebung des Wettbewerbsverhaltens von der Ebene des Einzelnen auf die Gruppenebene.

Im FRSp gibt es auf der einen Seite die große unbekannte Spielwelt, voll von den verschiedensten Staatsgebilden (oder -ungebilden), in denen haufenweise seltsame Leute mit oftmals noch seltsameren Sitten leben – gegen die man tunlichst nicht verstoßen sollte. Weite Landstriche sind gänzlich unzivilisiert und nur bewohnt von sagenhaften Ungeheuern, welche sich anscheinend bevorzugt von Abenteurern ernähren. Von aktiven Vulkanen über weite Sümpfe bis hin zu ständig vorwärtsdrängenden Gletschern finden sich alle landschaftlichen Schön- und Gemeinheiten, die Sie aus dem Erdkundeunterricht her kennen – und mehr! Überall können Gefahren für die Unvorsichtigen lauern. Selbst das Klima ist alles andere als ewiger Frühling.

Auf der anderen Seite steht mitten in einer solchen Welt die kleine, bunt zusammengewürfelte (im wahrsten Sinne des Wortes) Figurengruppe. Jedes ihrer Mitglieder hat besondere Schwächen und Stärken, Vorlieben und Abneigungen – einen eigenen Charakter. Diese Leute wollen nicht nur überleben, sondern aufregende Abenteuer erleben und vielleicht zu Ruhm und Wohlstand kommen. Das erreichen sie, indem sie sich den Gefahren ihrer Welt entgegenstellen, seien es “nur” Naturgewalten oder finstere Gegenspieler – vom bösen Zauberer bis zur Ork-Armee.

So eine Gegenspieler-Situation ist die häufigere Grundlage von FRSp-Abenteuern. Sie geht zurück auf das Grundprinzip der Fantasywelten: die Guten gegen die Bösen. Es gilt oft, etwas von jemandem zu holen (gegen dessen Willen), ein Verbrechen aufzuklären, jemanden zu begleiten und vor Überfällen zu schützen. Die Spieler verhalten sich koalitiv: Ihre Figuren unterstützen sich dabei, eine Schiffahrtsroute zu sichern, um nachher den Lohn zu kassieren. Sie versuchen aber gemeinsam, die angreifenden Piraten daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen, die Handelsschiffe zu plündern. Selbst bei einer solchen koalitiven Grundsituation – Spielerfiguren contra organisiertes Verbrechertum – gibt es im Spielverlauf viele kooperative Momente: Vorbereitung und Planung, das Überwinden von natürlichen Hindernissen (Riffen), Naturgewalten (Sturm) und Fallen (am Eingang des Piratenstützpunktes). Offensichtlich wird das koalitive Verhalten der Figuren z.B. kurz vor den Gemächern des Piratenkapitäns, wo sie zum Kampf gestellt werden: zwei Gruppen im Wettstreit, deren Mitglieder jeweils kooperieren.

Illustration: Abenteurergruppe

Bleiben Sie noch eine Weile bei diesem Abenteuer. Sie können daran eine der Bedingungen erkennen, die kooperatives Verhalten begünstigen. Es ist der Einfluß einer gemeinsam erlebten Not- oder Gefahrensituation. Ich möchte hier das überstrapazierte Lagerexperiment von Sherif/ Sherif (1969) nicht zitieren, sondern nur darauf verweisen. Die Notlage oder Gefahr darf dabei gerade so groß sein, daß kein Gruppenmitglied sie allein bestehen könnte, sondern eine vereinte Anstrengung aller nötig ist. Nicht abgesprochene Einzelaktionen von Figuren können leicht tödlich enden. Dasselbe gilt für Situationen bzw. Aufgaben, die zu vielschichtig und kompliziert für einen Einzelnen sind. Wird die Bedrohung zu stark oder die Aufgabe zu schwer, kann es leicht zu einer Panikreaktion kommen, in der die einzelnen Figuren ihre eigenen Ziele – wie Flucht oder Sicherheit – ohne Rücksicht oder gar auf Kosten anderer durchzusetzen versuchen. D.h. das wettbewerbsorientierte Verhalten überwiegt.

Lösen Sie sich jetzt von der Figurenebene und betrachten Sie die Teilnehmersituation. Schließlich sind es die Spieler, die über die Vorgehensweise der Figuren diskutieren und bestimmen. Trotz Regeln der Irrelevanz wirken verschiedene Einflüsse auf ihr Verhalten. Ich beziehe mich im Folgenden auf Klippstein/ Klippstein (1978). Als erstes wäre zu nennen, daß Leute, die ihre augenblickliche Situation als angenehm empfinden, die gutgelaunt sind, eher zu Kooperation neigen als Personen, die sich für mißmutig halten. In der FRSp-Praxis erlebt man oft gute Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfestellung der Spieler, wenn alle Spaß haben und der Spielverlauf dadurch interessant und flüssig ist. Spielern, die lustlos oder frustriert bei der Sache sind (ganz gleich, ob die Gründe innerhalb oder außerhalb des Spiels liegen), ist es eher egal, was mit ihren Figuren passiert, oder sie wagen halsbrecherische Aktionen ohne Absprache mit den anderen. Letzteres kann den Erfolg des Unternehmens der Gruppe erheblich gefährden. Nach Klippstein/ Klippstein kann es allerdings nach solchem Fehlverhalten – einem Verstoß gegen die Gruppennormen – zu einer verstärkten Hilfeleistung, einer Art Wiedergutmachungsreaktion kommen. Gruppendruck fördert offensichtlich die Hilfsbereitschaft.

Im vorhergehenden Raum erfuhren Sie, daß Kooperation zu Kommunikation führt. Umgekehrt ist dieser Zusammenhang weniger zwingend. Ebenso kooperieren Spieler nicht automatisch mit einer ihnen sympathischen Person. Ob vermehrte Kommunikationsmöglichkeiten und Sympathie die unterstützende Zusammenarbeit verstärken, hängt vielmehr vom Verhalten des Mitspielers ab. War dieses bisher eher kooperativ, wird man ihm vertrauen und selber kooperative Reaktionen zeigen. Stiehlt dagegen der fingerfertige Simba dem goldhortenden Thorin einen Teil seines Reichtums, so wird die Bereitschaft Thorins, Simba aus der Klemme zu helfen, deutlich gesenkt, auch wenn die Spieler sich sympathisch sind. In diesem Fall ist das offene Gespräch über den Diebstahl sogar hinderlich für die Kooperation. Hätte Simbas Spieler dem Spielleiter heimlich einen Zettel gegeben, wäre er nicht als Dieb entdeckt und als vertrauenswürdig eingestuft worden.

Soweit, so gut. FR-Spieler arbeiten also oft zusammen aus sehr handfesten, logischen Gründen. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie selbstlose Engel sind! Der Zusammenhang von Geld und Karriere ist schon beschrieben worden. Daß es nach der Überwindung von Gefahren nicht selten zum Gerangel um die Aufteilung der erbeuteten Schätze kommt, dürfte demnach auch nicht verwundern. Je komplexer ein FRSp-System ist, desto individueller können die Figuren entwickelt werden, desto mehr hängt ihre Karriere von ihrem eigenen Verhalten ab. Und das fördert das Wettbewerbsverhalten in Bezug auf Aktionen oder Ideen, die Erfahrungspunkte einbringen. Winrich Blaustein, Priester einer Wassergottheit, und Heinz Glutball, Kleriker des Feuergottes, betreuen dieselben Abenteurerschäfchen, haben aber offensichtlich sehr verschiedene Ansichten über den richtigen Weg und achten darauf, daß der jeweils eigene Klingelbeutel gefüllt wird. Trotzdem sind alle Figuren und Ziele voneinander abhängig und werden gebraucht.

Es gibt noch eine ganze Reihe von Umständen, die das Verhalten einer Figur beeinflussen, als da wären: ihre Eigenschaftswerte, Rasse (Mensch, Elf, Zwerg, ...), ihre Klasse, ihre Vorgeschichte, ihre Gefährten – die Rollenspielfähigkeit des Spielers, seine Vorgeschichte und Lebensumstände. Letztere schlagen sich teilweise schon in der Auswahl der Figur nieder. Schließlich ist noch die Zusammensetzung der Spieler- und Figurengruppe von Bedeutung.

Meine Umfrage zeigt – übertragen auf die Motive nach Deutsch – daß sich FR-Spieler durchschnittlich egalitär verhalten. Das paßt interessanterweise zu einer menschlichen Tendenz, „die besagt, daß die Erträge oder Gewinne in Spielsituationen unter den Gruppenmitgliedern so verteilt werden, wie es ihren jeweiligen Aufwendungen oder Kosten entspricht.“ (Baer/Thole, 1985, S. 112) Wenn das nicht der Fall ist, fühlen sich die Teilnehmer umso unwohler, je ungleicher das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag ist. Das führt zu Vergleichen mit dem Ertrag anderer Spieler und dem Wunsch nach Ausgleich. „Dabei müssen die Erträge oder Gewinne in Relation zu den Kosten nicht objektiv für jeden einzelnen Spieler gleich sein, sondern sie können sich auch durch eine bei den einzelnen Spielern verzerrte Wahrnehmung von Gewinn und Verlust verschieden verteilen.“ (Crott n. Baer/Thole, 1985, S. 112)

Die vorletzte Ecke dieses Raumes verweist auf den vorhergehenden und auf Raum 3.3., in denen davon zu lesen ist, daß Kooperation auch außerhalb des eigentlichen Spiels stattfindet, nämlich in gemeinsamen Regeländerungen.
Die letzte Ecke ist der Frage vorbehalten, ob man mit FRSp kooperatives Verhalten einüben kann. Die Antwort erfahren Sie allerdings erst im nächsten Raum.



Raum 4.4. Wenn Dein Ordenskrieger weiter so mit seiner Rüstung klappert, kriegt er von meinem Spitzbuben noch eine gewischt!
oder: Aggression im FRSp

Aggression im FRSp? Keine Frage, werden Sie sich vielleicht denken. Da werden doch reihenweise Monster geschlachtet, Gegner gekillt und “Gewalt gegen Sachen” ausgeübt. Man braucht doch nur mal die vielen Waffenabbildungen in den Regelwerken anzusehen. Und überhaupt, die Sword-and-Sorcery-Vorlagen...

Wohl wahr, die kommerzielle Aufmachung von FRSp wirkt oft martialisch, und selbst wenn man sich etwas eingehender mit den Regeln befaßt hat, bleibt der Eindruck, daß aggressive Handlungen in Form von Kämpfen einen nicht geringen Anteil am Spiel haben müssen. Dieses oberflächliche Gesamturteil soll jetzt etwas genauer unter die Lupe genommen werden. Vorher will ich Sie nur noch schnell an Raum 3.3. erinnern: jede Spielgruppe hat ihre Vorlieben und Abneigungen dementsprechend ihr Spielstil aussieht. Die Unterschiede sind gewaltig. „Kampf ist der Aspekt des Rollenspiels, bei dem es besonders vom persönlichen Geschmack abhängt, wie komplizierte Detailregeln man in Kauf nehmen will, um erhöhten Realismus des Geschehens zu erzielen.“ (MIDGARD I, 1983, S. 75)


Was ist das eigentlich, “Aggression”? Nach Ballstaedt kann sie aus drei Blickwinkeln erklärt werden: dem des Beobachters, dem des Aggressors und dem des Opfers. In allen drei Fällen geht es um eine Schädigung des Opfers durch den Aggressor, die entweder offen sichtbar ist – ungeachtet der Absicht – oder nur unentdeckt vom Aggressor beabsichtigt oder vom Opfer nur als solche aufgefaßt wird. In dieser Sammeldefinition sind sowohl wirkliches als auch vorgestelltes Verhalten und Gefühle berücksichtigt.

Beim FRSp können Spannungen und Aggressionen einmal im Zusammenhang mit Regelbrüchen der Spieler auftreten. Zum zweiten gibt es auf der Figurenebene erlaubte und in Regeln gefaßte (= ritualisierte) Aggressionen. Schließlich können Aggressionen von der Spielerebene in die Spielwelt der Figuren übertragen werden. Aber der Reihe nach. Regelbrecher „verletzen nicht nur die eine oder andere Regel, sondern sie bedrohen die Spielwelt als ganze. Der Spielverderber kann zurechtgewiesen und ausgeschlossen werden; doch wenn diese Sanktionen notwendig werden, ist die Spielwelt nicht mehr heil.“ (Ballstaedt, 1976, S. 75) Einige Typen davon sind Ihnen schon in Raum 3.1. begegnet.

Der Abgelenkte z.B. beachtet viele Regeln der Irrelevanz nicht. Er beschäftigt sich mit Angelegenheiten außerhalb des Spiels. Die anderen Teilnehmer müssen ständig aus der Spielsituation herauskommen, um ihn wieder hereinzuholen. Dann gibt es eine Art schlechten Verlierer. “Verlierer” in dem Sinne, daß ausgerechnet er vom Würfelpech verfolgt wird, oder seine Figur durch eigene Fehlentscheidungen von einem Schlamassel in den nächsten gerät, immer am Rande des körperlichen Zusammenbruchs. Oder die Gruppe kommt einfach nicht weiter. Ein schlechter Verlierer gefährdet nicht nur die Kooperation (wie im vorigen Raum erwähnt), sondern er schimpft auf der Teilnehmerebene, überträgt Aggressionen aus der Spielwelt in die Wirklichkeit. Eine weitere Sorte Spielverderber ist der Besserwisser, der den Spielleiter und seine Mitspieler ständig auf – nach seiner Einschätzung – falsche Regelauslegungen hinweist und sie “berichtigt”. Er stört den Spielablauf, indem er die Metakommunikation über die Regeln während des Spiels beginnt. Als letztes Beispiel sei der Redner genannt, der mit seinem Wortschwall die ganze Aufmerksamkeit des Spielleiters – und damit den ganzen Unmut der Spieler – auf sich zieht.

Spannungen, die aus solchen Regelbrüchen entstehen, entladen sich besonders gern in Aggressionen, wenn aggressives Verhalten eh schon Bestandteil des Spiels ist (wenn auch auf anderer Ebene).

Und Kampfhandlungen sind den Figuren durchaus erlaubt – meistens jedenfalls. Waldo muß sich schon eine kluge oder finanzkräftige Antwort überlegen, wenn er in einer Stadt, in der Waffentragen verboten ist, mit seinen beiden Schwertern von einer Wache erwischt wird. Immerhin gaben 22,1% der Befragten an, daß Kämpfe, Monsterschlachten usw. ihnen als Spieler überhaupt keinen Spaß machen. Nur 6,4% dagegen macht es viel Spaß. Trotzdem enthält jedes FRSp-System mehr oder weniger ausgefeilte Kampfregeln. Der dadurch erreichte hohe Simulationsgrad (im Gegensatz zu Schach z.B.) verstärkt noch die spielerischen Aggressionen. Sie schlagen nicht einen Springer mit Ihrem Läufer; statt dessen stecken Sie in der Rolle des edlen Kriegers, der seinen Morgenstern gegen den heranpreschenden schwarzen Reiter schwingt, ausweicht, erneut zuschlägt, auf verschiedene Kampftaktiken verfällt. Das Ganze ist nicht ein einziger Spielzug, sondern eine minutenlange Interaktion zwischen Spieler und Spielleiter, deren Ergebnis vorher nicht feststeht.

Kampf gehört zu den ritualisierten Interaktionen im FRSp, ist also strengeren Beschränkungen unterworfen als das übrige Figurenverhalten und dadurch stärker von der Wirklichkeit entfernt (Raum 3.2.). Eine Ritualisierung aggressiver Handlungen der Figuren im weiteren Sinn ist zusätzlich gegeben durch das Thema Fantasy, bei dem im ewigen Kampf Gut gegen Böse kriegerische Auseinandersetzungen erlaubte und nicht unübliche Problemlösungsmittel sind. (Vergleichen Sie hiermit die Räume 1.3. und 3.4.) Die Tatsache, daß alles nur Spiel ist, ermöglicht es den Teilnehmern, ganz in die Rolle eines Angreifers zu schlüpfen, zu fluchen, zu schlagen und sogar zu töten, ohne daß das ernste Gegenreaktionen in der Wirklichkeit nach sich zieht. Das zeigt noch einmal, wie wichtig es ist, Fantasy und Alltag unterscheiden zu können. Hierunter fällt insbesondere auch die Fähigkeit, Spieler und ihre unter Umständen sehr rabiaten Figuren auseinanderzuhalten (Raum 4.1.). Jetzt wird eine Doppelbedeutung des Themas klar: Einerseits werden durch es für die Dauer des Spiels gewisse Aggressionsformen eingeübt, andererseits ist es gleichzeitig das stärkste Mittel, Spiel und Wirklichkeit zu trennen.


Es fehlt noch die aus der Teilnehmerebene in die Spielwelt übertragene Aggression. Der Rollenspiel-Aspekt von FRSp bietet eine erstklassige Puffer- und Ventilfunktion. Haben Sie (egal weshalb) Wut im Bauch, drängelt sich ihre Figur eben bei Kämpfen in die erste Reihe oder provoziert sogar Streit. Wenn Sie aus irgendeinem Grund sauer auf einen Ihrer Mitspieler sind, ergibt sich bestimmt irgendwann eine Situation, in der Ihre Figur die Ihres Mitspielers irgendwie schädigen kann. Das läßt sich dann der Situation oder dem Charakter der Figuren zuschreiben. Bleiben diese Aktionen in einem gemäßigten Rahmen, können die Spieler sie ausleben, ohne das Spiel zu sprengen (wie Sie es in Raum 3.1. schon entdeckt haben). Sie sind nicht Sie, Ihr Dieb muß eben stehlen – ich bin nicht ich, mein dummer Kämpfer versteht manches falsch und schlägt zu. Und die finsteren Trolle dürfen wir allemal fertigmachen... Man reagiert sich ab hinter der Maske der Figuren.

Damit wäre gleich schon etwas zur Funktion der Aggression in FRSp gesagt. Wie sieht es mit den Lernerfahrungen aus? Werden gewalttätige Verhaltensmuster und Lösungsstrategien kritiklos und unreflektiert aus dem Spiel in den Alltag übertragen? Müssen Sie damit rechnen, einen Feuerball an den Kopf geschleudert zu bekommen, wenn Sie dem Spieler eines 13.-stufigen Zauberers eine schlechte Note geben?

Spiel dient Jugendlichen und Erwachsenen vornehmlich zur Unterhaltung. Es hat nicht die überwiegende Lernfunktion, die es für Kinder hat. Grundmuster der vorkommenden Verhaltensformen müssen also schon vorhanden sein und können nur weiter geübt, bestätigt und differenziert werden. Ob im Spiel gelerntes bzw. geübtes Verhalten in die Wirklichkeit übertragen wird, hängt nach lernpsychologischen Erkenntnissen stark davon ab, wie vergleichbar beides miteinander ist. Je ähnlicher die Situationen sind, desto eher neigt die Person dazu, erfolgreich erlebte Verhaltensmuster von einer in die andere zu übertragen. Je größer die Unterschiede zwischen den Situationen sind, desto mehr wird das im Spiel erlernte/geübte Verhalten in der Wirklichkeit abgeändert oder unterdrückt. Im FRSp gibt es allerdings zwei Handlungsebenen: die der Figuren (schon durch das Thema Fantasy weit entfernt von der Alltagswelt) und die der Teilnehmer in der Wirklichkeit – eine im Alltag öfter auftretende Situation. Es ist demnach anzunehmen, daß nur für die Figuren erfolgreiche Handlungsmuster wie aggressive, gewalttätige Problemlösungen außerhalb des Spiels weniger Bedeutung haben als Verhalten, das auch (oder nur) auf der Teilnehmerebene Erfolg zeigt, z.B. Kooperation und Kommunikation.


Ganz so streng ist diese Aufteilung jedoch nicht (das wär’ zu schön, um wahr zu sein). Im FRSp können die Teilnehmer Spannungen, aufgestaute Gefühle, Aggressionen in bestimmten Maße herauslassen, sich abreagieren, entlasten. Das läuft in der Fachliteratur unter der Bezeichnung Katharsis. Die Theorie von der Aggressionsverminderung aufgrund der Katharsis ist zwar inzwischen widerlegt worden, ihre Entlastungsfunktion ist aber eine angenehme Erfahrung für die Beteiligten. In Verbindung mit vielen anderen Aspekten aus Raum 5.2. macht dies die Lust am Spiel aus. Diese wird natürlich in Zusammenhang gebracht mit allen Geschehnissen und Handlungen während des Spiels, so daß die erlebte Spielfreude jedes Verhalten unspezifisch verstärkt.

Als Ergebnis kann daher gesagt werden, daß FRSp jedes während der Spielzeit auftretende Verhalten, abhängig vom Grad seines Erfolges und seines Auftretens auf der Figuren- oder Teilnehmerebene, mehr oder weniger verstärken bzw. in das Alltagsleben der Teilnehmer übertragbar machen. Mitteilungsfähigkeit, Kooperation und Rolleneinnahme werden dabei mehr gefördert als aggressive, gewalttätige Neigungen.



Raum 4.5. Das geht nicht!
oder: Die Rolle des Spielleiters

“Welcome to the exalted ranks of the overworked and harrassed, whose cleverness and imagination are all too often unappreciated by cloddish characters whose only thought in life is to loot, pillage, slay and who fail to appreciate the hours of preparation which went into the creation of what they aim to destroy as cheaply and quickly as possible.”

(AD&D DMG, 1979, S. 9)

Dein Spielleiter – das unbekannte Wesen? Ganz und gar nicht, laut meiner Umfrage. 85% aller Spieler sind auch Spielleiter. Diese Zahl ist vielleicht etwas zu hoch, da ich glaube, daß Spielleiter sich engagierter und öfter mit FRSp befassen, so daß sie wohl mehr Interesse am Ausfüllen von Fragebögen haben, bzw. sich einfach mehr in Spieleläden herumtreiben. Das sollten Sie auch beachten bei dem Ergebnis, daß das Durchschnittsalter der Nur-Spieler bei 25,5 Jahren liegt, das der Auch-Spielleiter bei knapp 22 Jahren. Während des Spiels fühlen sich Spielleiter nur etwas selbständiger als Spieler. Auch ihre Spielerfahrung liegt mit durchschnittlich 2,7 Jahren nur wenig über der von Nur-Spielern (2,2 Jahre). Meiner Meinung nach hängt dieses Ergebnis mit dem kommerziellen FRSp-Boom der letzten Jahre zusammen. Im Zuge des plötzlichen, gehäuften Auftretens der Spiele auf dem bundesdeutschen Markt haben sich viele FRSp-Gruppen unabhängig voneinander im gleichen Zeitraum gebildet, in denen sofort ein Teilnehmer das Amt des Spielleiters übernommen hat. Das erklärt auch die durchschnittliche Spielerfahrung aller Befragten von 2,6 Jahren. Demgegenüber kommt es seltener vor, daß sich um einen “alten Hasen” als Spielleiter eine neue Gruppe bildet, in der sich nach einiger Zeit die Spieler erfahren genug fühlen, auch dieses Amt zu übernehmen, um vielleicht wieder neue Gruppen zu bilden...

Die sichtbaren Unterschiede zwischen Spieler und Spielleiter zeigen sich einmal im Engagement: Auch-Spielleiter beschäftigen sich mit durchschnittlich 28 Stunden im Monat (Höchstwert: 80 Std.) 2-3 mal soviel mit FRSp als Nur-Spieler (Durchschnitt: 11 Std., Höchstwert 22 Std.). Zum anderen ist die Geschlechtsverteilung ziemlich verschieden: Von Nur-Spielern sind 47% Frauen, von Auch-Spielleitern nur 9%!


In Raum 3.2. fanden Sie drei Funktionen der FRSp-Regeln: Vorbereitung, eigentliches Spiel und Auswertung. Während Spieler nur am eigentlichen Spiel beteiligt sind, hat der Spielleiter Aufgaben in allen Bereichen zu erfüllen.

Da ist zuerst der Job des Animateurs. In der Vorbereitungsphase muß er den Handlungsrahmen der Spielgeschichte entwerfen. All die Landschaften, Gebäude, Lebewesen, politischen Verhältnisse des Teils der Fantasywelt, der für das Spiel wichtig ist. Das Ganze muß ansprechend, interessant und abwechslungsreich gestaltet sein. Immer nur Königssöhne aus den Klauen von Dämonenfürsten retten wird auf die Dauer langweilig. Im Spielverlauf muß er mehr oder weniger offen eingreifen, wenn nichts mehr läuft, die Handlung stockt, den Spielern die Köpfe rauchen und die Ideen ausgehen. Das sollte allerdings nicht die Regel sein. Gerade eine – durchaus gesellschaftlich bedingte – Konsumhaltung der Spieler verleitet dazu, ihnen zu schnell unter die Arme zu greifen und so eine latent vorhandene Denkfaulheit zu fördern.

Die nächste Aufgabe des Spielleiters ist es, die Sinnesorgane der Spieler zu sein. Das liegt an der schon erwähnten Dialogstruktur von FRSp. Die Spieler erfahren größtenteils nur etwas von ihrer Umgebung und deren Veränderungen durch die Beschreibungen des Spielleiters. (Räume 1.4., 4.1., 4.2.).

Alsdann ist er eine Art Moderator. Schon beim Entwurf eines Abenteuers muß er im Auge behalten, daß jede Figur mit ihren Schwächen und Stärken gefordert wird und sich nachher keiner überflüssig vorkommt. Im eigentlichen Spiel sollte er darauf achten, daß alle Spieler zu Wort kommen, sich am Spielgeschehen beteiligen können. Manchmal ist es sogar nötig, heimlich das Würfelpech zu korrigieren, wenn er weiß, daß ein schlechter Verlierer (aus Raum 4.4.) eine Situation kippen könnte. Vielen Spielleitern macht es am meisten Spaß, wenn die Gruppe Spaß hat. (Genaueres hierzu erfahren Sie in Raum 5.2.)

Fast im Widerspruch dazu steht die Schiedsrichter-Aufgabe. Als solcher hat der Spielleiter dafür zu sorgen, daß sowohl unter den Spielern als auch zwischen ihnen und den übrigen Bewohnern der Fantasywelt Gerechtigkeit herrscht. D.h. er müßte absolut unparteiisch sein und nur nach der Logik der Situation handeln, ohne jemanden zu bevorzugen – sei es Spieler oder Monster. Dazu gehört auch, daß er für die Dauer des Spiels immer Recht hat! Regeldiskussionen und Streitereien zerstören die Atmosphäre und sollten für später aufgespart werden. Als Schiedsrichter hat der Spielleiter absolute Autorität.

Die fünfte Aufgabe des Spielleiters ist es, die Rollen sämtlicher Fantasypersonen zu übernehmen, mit denen die Spielerfiguren zusammenkommen. Dabei ist er allerdings nicht so frei wie sie, denn diese Nichtspielerfiguren haben oftmals eine vorher festgelegte Handlungsmotivation und einen bestimmten Charakter. Um den erfolgreichen Fortgang der Geschichte nicht zu gefährden, darf der Spielleiter gerade bei wichtigen Nichtspielerfiguren nicht allzusehr von diesen Richtlinien abweichen. Er muß solche Figuren auch so führen, wie es deren begrenztem Wissen entspricht, nicht seinem umfassenden Spielleiterwissen.

Es bleibt noch der Job des Supervisors bzw. Beobachters. Er sollte den Überblick haben über das gesamte Geschehen während eines Spieltermins. Das ist nötig, um den logischen Fortgang der Geschichte zu gewähren, damit die Spieler vernünftige Pläne machen können. Und es ist wichtig, um alle Spielerideen zu berücksichtigen. Weiterhin muß er die Spielregeln kennen oder zumindest wissen, wo er was schnell nachschlagen kann, um nicht den Spielfluß zu stoppen. Wenn es nötig ist, muß er in unvorhergesehenen Situationen neue Regeln improvisieren. Schließlich obliegt ihm die Buchführung während des Spiels über alle Aktionen der Spieler, die für ihre Karriere oder den weiteren Verlauf der Geschichte von Wichtigkeit sind. In der Auswertung zieht er nämlich die Konsequenzen für die Spielwelt und deren Bewohner, die der Spielverlauf nach sich zieht. Er vergibt dann auch die aus Raum 3.2. schon bekannten Erfahrungspunkte. Das ist eine Möglichkeit, dem egalitären Verhalten der Spieler nachzuhelfen, im Nachhinein also eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit walten zu lassen. So werden Streit und Neid bei folgenden Spielen vorgebeugt, was das Einhalten der Regeln der Irrelevanz erleichtert.


Eine ziemliche Ämterhäufung, nicht wahr? Kein Wunder, daß der Part des Spielleiters nicht nur mit Macht verbunden ist – was auch sein Scherflein zu dessen Spielspaß beiträgt, sondern auch mit Autorität und Streß. 44% aller Auch-Spielleiter nehmen lieber als Spieler am FRSp teil, 37% lieber als Spielleiter und 19% konnten sich nicht entscheiden.

Der Idealfall wäre, wenn alle Teilnehmer gleich verantwortlich wären für das Gelingen eines Spieltermins. Laut Umfrage jedoch fühlen sich Spielleiter stärker dafür verantwortlich, und die zweithäufigste Antwort der Spieler auf die entsprechende Frage war, daß ein schlechter Spielleiter ihnen am wenigsten Spaß am FRSp macht. Spielleiter müssen sich hier Eigenschaften wie unfähig, langweilig, willkürlich, selbstgerecht und unterdrückend gefallen lassen. Auch Lampenfieber vor einigen Spielterminen ist mir als Spielleiter nicht fremd. Daraus schließe ich, daß ein weiterer Aspekt unserer Gesellschaft, durch Regeln der Irrelevanz gesteuert, zu einem gewissen Grad in die Spielsituation aufgenommen wird: das Bedürfnis unterhalten zu werden, die Konsumhaltung. Nicht so ausgeprägt wie beim Fernsehen, Lesen oder dem Spielen von vielen Gesellschaftsspielen. Aber gerade genug, um wieder zu beweisen, daß auch FRSp nicht abgehoben von der sozialen Wirklichkeit bestehen. Diese Haltung fördert natürlich die Aktivität und Autorität des Spielleiters. Hierin liegt ein nicht sofort erkennbarer Unterschied zwischen ihm und den Spielern, denn er kann nicht konsumieren, sondern muß etwas bieten. Ich nehme an, daß dieser Unterschied mit wachsender Spielerfahrung der Gruppe kleiner, die Autorität des Spielleiters abgebaut wird.

Im hinteren Teil des Raumes noch ein Wort zum Thema. Dadurch, daß der Spielleiter gerade bei den zusammenhängenden Abenteuern einer fortlaufenden Kampagne den Hintergrund immer weiter ausbaut und detailliert, eine ganze Welt entwirft mit vielen Kleinigkeiten, die die Spieler erst sehr spät – wenn überhaupt – erfahren, überschreitet er die Grenze der Heroic-Fantasy. Für Junker Jörg ist das seltsam schimmernde Edelsteinplättchen ein interessanter Fund im Keller der väterlichen Burg, mit dem er versucht, etwas zu machen, es zu benutzen. Nur der Spielleiter weiß – zumindest in diesem Moment – um die wahre Bedeutung und Geschichte des Steins. Daß dieser Aspekt von FRSp, der ja außerhalb der eigentlichen Spielzeit liegt, sehr wichtig ist, wird dadurch bewiesen, daß er an erster Stelle aller Antworten auf die Frage, was als Spielleiter am meisten Spaß mache, steht, wie Sie in Raum 5.2. noch sehen werden.

Illustration: Spielleiter@Work



Verliesebene fünf – Betrachtung der Zielgruppe

Raum 5.1. Siehst Du nicht, daß ich ein Elf bin?
oder: Wer spielt FRSp?

Zunächst ein Wort zur Methode. Ich habe an 10 Spieleläden in der BRD je 30 Fragebögen verschickt, die dort von Mitte Juli bis Mitte September 1986 auslagen. Von diesen insgesamt 300 Bögen habe ich 111 ausgefüllt zurückbekommen. Das ist eine Rücklaufquote von mehr als einem Drittel! Außerdem schickten eine Reihe von Spielern ihren Bogen direkt an mich mit persönlichen Begleitschreiben, Anfragen und Anregungen zu dieser Arbeit. Es besteht offensichtliches Interesse in der FR-Spielerszene an einer derartigen Untersuchung – ganz im Gegensatz zu den Verlagen (Ebene 2). Trotzdem halte ich die Umfrage nicht für repräsentativ, dafür waren es einmal zu wenig Verteilerstellen und Bögen. Zum anderen gehört schon einiges an Engagement und Interesse an FRSp überhaupt dazu, sich in Spieleläden umzusehen und hinzusetzen, um einen Fragebogen auszufüllen. Die Leute z.B., denen ein FRSp geschenkt wurde und die ab und zu spielen, habe ich nicht erreicht.

In Gesprächen und Schriftverkehr mit Befragten zeigte sich, daß manche Fragen mißverständlich gestellt waren und deshalb nicht ausgewertet werden konnten. Desweiteren ging die Arbeit beim Schreiben in bestimmte Richtungen, die andere Fragen unwichtig machten.

Aber zur Sache – bei der sich alle Zahlen auf die Umfrage beziehen. Auf dem bundesdeutschen Markt gibt es FRSp seit August 1981. Dementsprechend sind es nur wenig Leute (7,2%), die vor diesem Termin schon Bekanntschaft mit dieser Art zu spielen schlossen. Bezeichnenderweise ist diese Gruppe hauptsächlich durch Freunde oder Urlaub in englischsprachigen Ländern zum FRSp gekommen. Die damaligen Spielgruppen konnten sich noch als kleine, verschworene Gemeinschaften fühlen, die etwas ganz Besonderes machten. Die größte Spielerfahrung liegt bei 7 Jahren, die meisten spielen jedoch seit 2-3 Jahren (Durchschnitt: 2 Jahre, 7 Monate), was einem Spielbeginn Anfang 1984 entspricht. Das dürfte ja nach der Durchsuchung von Raum 2.1. auch nicht verwundern.

Wo wir gerade bei Jahreszahlen sind: die Altersspanne von FR-Spielern geht von 14-44 Jahre mit dem Gros zwischen 14 und 33 und dem Durchschnitt von 22,4 Jahren. FRSp werden also hauptsächlich von Jugendlichen und (vornehmlich jungen) Erwachsenen gespielt. Sowohl die Altersempfehlungen der Verlage als auch meine Untersuchungen in Raum 4.1. treffen zu.


Was zu denken geben sollte, ist, daß nur 14,4% Frauen unter den FR-Spielern sind. Das kann verschiedene Gründe haben. Allgemein läßt sich beobachten, daß im privaten Bereich immer noch Mädchen häufiger zu häuslichen Arbeiten herangezogen werden als Jungen, so daß ihnen weniger Zeit und Ermunterung zum Spielen überhaupt gegeben ist. Im Kreise der erwachsenen Spieler sind es dann meistens die Frauen, die sich um die Kinder kümmern, wodurch sie weniger zum Spielen kommen. Goodman/Lever (1972) stellten fest, daß typischerweise mehr von Jungen benutzte Spielmittel stärker mit den Begriffen aktiv, sozial und schwierig (komplex) in Verbindung gebracht wurden. Typischerweise von Mädchen bevorzugte Spielmittel wurden eher als passiv und einfach beurteilt. Meine Umfrage ergab, daß FRSp-Teilnehmer sich während des Spiels viel gelöster, aktiver, vertrauter und selbständiger fühlten als gehemmt, passiv, fremd und abhängig. FRSp werden also als typisch “männliches Spielmittel” eingeschätzt. Zum Einen ist demnach für das weitgehende Fehlen von weiblichen FR-Spielern das traditionelle, geschlechtsspezifische Erziehungsverhalten verantwortlich.

Dazu kommt sehr wahrscheinlich noch, daß die chauvinistische, sexistische Darstellung bzw. Behandlung von Frauen in den meisten literarischen und filmischen Vorbildern der Fantasy übertragen wird auf FRSp. (Immerhin haben 75% aller FR-Spieler schon Fantasy-Literatur gelesen, bevor sie mit dem Spiel begannen.) Das wird auch weiterhin verständlich, wenn man sich die Illustrationen der meisten Regelwerke bzw. im Handel erhältlichen Abenteuer einmal vornimmt. Neben der Vergewaltigungsszene in der 1. Auflage bietet DSA im Solo-Abenteuer “Nedime” ein weiteres drastisches Beispiel. Dort kann der (!) Spieler heimlich einen (weiblichen) Striptease in Form einer entsprechenden Bildfolge beobachten. Die “Spannung” liegt darin, daß mit der Zeit die Chance steigt, von Palastwachen entdeckt zu werden. Das ist eindeutig auf eine männliche Käuferschicht zugeschnitten! Frauen erfahren lediglich in den Regelmechanismen von FRSp eine Gleichberechtigung, und das ist natürlich nicht auf den ersten oder zweiten Blick erkennbar.

Überhaupt sind FR-Spieler starke Fantasy-Leser:

4,6% lesen nie,
24,8% lesen selten,
30,3% lesen mäßig oft und
40,4% lesen sehr viel Fantasy-Literatur.

Lese- und Spielgewohnheiten überschneiden sich demnach sehr. Es scheint, daß bei vielen das Thema Fantasy den Anstoß gab, mit FRSp zu beginnen. Das dürfte besonders bei Spielern zutreffen, die noch nicht lange dabei sind, da es inzwischen auch auf dem deutschsprachigen Markt Rollenspiel zu anderen Themen – Science Fiction und Lovecraft’schen Horror – gibt. Das junge Durchschnittsalter von FR-Spielern läßt vermuten, daß viele Schüler bzw. in der Ausbildung befindliche Leute darunter sind. Es wurde in vorhergehenden Räumen schon von FRSp als einem eher intellektuellen Spiel gesprochen. Das würde ein Übergewicht von Oberschülern und Studenten in der Zusammensetzung der FR-Spielern wahrscheinlich machen. Dem ist tatsächlich so. Die Aufteilung ist wie folgt:

34% Schüler (davon 84% Gymnasiasten),
33% Studenten (davon 53% naturwissenschaftlich/technisch),
26% Berufstätige,
7% Auszubildende.

Fast zwei Drittel sind Oberschüler und Studenten (die wahrscheinlich auch mehr Freizeit haben). Bei den Berufstätigen reicht das Spektrum vom Maschinenschlosser zum Diplom-Informatiker. Es ist daher schon richtig, daß viel Zeit und eine intellektuelle Ausbildung den Zugang zur äußeren Form von FRSp – Verarbeitung von Texten, Zahlen und Tabellen der umfangreichen Regelwerke – erleichtert, für das aktive Spiel jedoch nicht zwingend notwendig sind. Dazu gehören imaginative und kreative Kompetenz, will sagen, Phantasie und Einfallsreichtum – Eigenschaften, die zu bewahren und entwickeln in den verschiedensten leistungs- und verstandesbezogenen Ausbildungs- und Berufsarten gleich schwer ist. Das zeigt sich auch in der Auswertung der Fragen nach den wichtigsten Eigenschaften, welche Spieler und Spielleiter haben sollten. Hier die Ergebnisse in Prozent der Antworten:

Die wichtigste Eigenschaft von Spielern sollte sein:%
Phantasie 28,2
Einfühlungsvermögen, Aus-sich-herausgehen in die Figur und ihre Situation,
rollengerechtes Spiel
16,7
Ideenreichtum, Kreativität 14,7
Kooperationsvermögen, Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftssinn 9,6
Disziplin, Selbstbeherrschung, Anpassungsvermögen, Toleranz 7,7
Spaß, Interesse, Engagement im Spiel 7,1
Humor 3,2
Intelligenz, Pfiffigkeit 3,2
Unterscheidungsvermögen zwischen Spieler und Figur 1,9
Mut zum Risiko 1,9
Regelkenntnis 1,9
Sonstiges 1,9

Die wichtigste Eigenschaft von Spielleitern sollte sein: %
Gerechtigkeit, Objektivität, Fairness 17,7
Einfühlungsvermögen, auf Spieler und deren Ideen eingehen, Toleranz 11,6
Improvisationsvermögen 10,0
Einfallsreichtum, Originalität, gute Abenteuer schreiben können 8,8
Durchsetzungsvermögen 7,7
Phantasie 7,2
Übersicht, Durchblick 6,6
Ruhe, Geduld 6,1
Gutes Erzähl- und Darstellungsvermögen 5,0
Humor 4,4
Regelkenntnis 3,9
Vielseitigkeit, Flexibilität 3,3
Logik 3,3
Spaß am Spielleiten 2,2
Sonstiges 2,2

Illustration: MIDGARD . . .

Sie sehen, daß besonders von den Spielern viele soziale Eigenschaften gefordert werden, die sich vornehmlich auf der Teilnehmerebene auswirken. Dazu kommt, daß trotz Fantasy-Begeisterung beim Spiel selbst die meisten Teilnehmer mehr von der Art und Weise des Spielens (Rollenspiel) fasziniert sind als vom Thema. Das Verhältnis ist 62,1% zu 27,2% (10,7% unentschieden). FRSp sind für sie ein Aspekt von Geselligkeit und oftmals nur eine von mehreren Unternehmungen in einer Gruppe. Auf die Frage: „Wieviel Kontakt zu Mitspielern hast Du außerhalb von FRSp?“ verteilten sich die Antworten wie folgt:

3,5% haben keinen,
12,4% haben wenig,
29,2% haben mäßigen,
54,9% haben viel Kontakt zu Mitspielern.

Die Spielgruppen haben meist eine überschaubare Größe von 3-8 Personen, mit dem Durchschnitt bei 7,2. Es kommen aber auch Gruppen mit bis zu 20 Teilnehmern vor. Zu Spielterminen kommen jedoch nur durchschnittlich 5-6 (genau 5,7) Mitglieder. Das hat unter anderem damit zu tun, daß Entscheidungsprozesse, an denen alle Spieler beteiligt sind, umso länger dauern, je größer die Gruppe ist. Es braucht mehr Zeit, sich über das Vorgehen zu einigen, es bilden sich gleichzeitig redende Untergruppen und kommt öfter zu Situationen, wo alle wild durcheinanderreden. Dann weiß keiner mehr, was eigentlich los ist, das Spiel stockt. Dominante Personen haben es dann leichter, das Wort an sich zu reißen mit der vorgeschobenen Erklärung: dem Spielfluß zuliebe. Einzelne Spieler können weniger am Spielverlauf beteiligt sein und sind entsprechend frustriert. Gleichzeitig ist es für den Spielleiter schwer, eine große, uneinheitliche Spielergruppe zu überschauen, koordinieren und wenn nötig zu disziplinieren. Weil die meisten Spieler auch Spielleiter sind, ist dieses Problem vielen bekannt. Zu große Gruppen sind also für alle Teilnehmer wenig erholsam bzw. bieten weniger Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung in Form von aktiver Beteiligung. Deshalb kommt es bei zu großem Zulauf zu einer Gruppe oft zur Spaltung, um den Spielspaß zu erhalten.

Viele FRSp-Spieler sind Mitglied mindestens zweier Spielgruppen:

40,8% spielen in einer,
32,0% spielen in zwei,
19,4% spielen in drei,
3,9% spielen in vier und
3,9% spielen in fünf oder mehr Gruppen.

Als letztes Phänomen soll noch das Entstehen vieler FRSp-Clubs, in denen sich Spielgruppen organisieren, erwähnt werden. Inzwischen gibt es hierzulande drei überregionale Vereinigungen, in denen sich die Spieler jeweils eines der verbreitetsten deutschsprachigen Systeme (MIDGARD, D&D, DSA) zusammenschlossen – auf Veranlassung und unter den Fittichen des jeweiligen Verlages.



Raum 5.2. Ich spiele FRSp, weil ich sonst nicht zaubern kann.
oder: Was macht Spaß am FRSp?

Dieser Raum ist etwas besonderes, weil er sich nicht eindeutig einer Verliesebene zuordnen läßt. Es ist vielmehr eine Art Fahrstuhl, der Sie unweigerlich auf die nächsttiefere Ebene bringt. Im vorderen Teil sollen die FRSp-Teilnehmer selbst zu Wort kommen. Die Antworten auf die Frage: „Was macht Dir als Spieler am meisten Spaß?“ verteilen sich so:

Interaktion, Gespräche zwischen den Teilnehmern, Geselligkeit 10,3%
schwierige Aufgaben lösen/überleben 9,5%
rollengerechtes Verhalten 7,9%
Schätze, Macht, Karriere 7,9%
logische, intelligente Abenteuer 7,1%
Kampf 6,4%
Darstellung ungewöhnlicher Wesen/Figuren 4,8%
überraschende Situationen (erzeugen oder erleben) 4,8%
die Atmosphäre, Spannung 4,8%
phantasievolles, freies Spiel 4,0%
Ideen der Gruppe 4,0%
Witze zwischendurch 4,0%
fremde Welten und Wesen entdecken 4,0%
Rätsel 4,0%
Magie 3,2%
Sonstiges 13,5%

Eine herausragende Kategorie scheint es nicht zu geben. Jeder Spieler – und jede Spielgruppe – kann seine/ihre persönlichen Bedürfnisse in FRSp ausleben. Es gibt kein durch Regeln festgelegtes Spielziel, das von allen Beteiligten angestrebt werden muß. Jeder setzt sich selbstverantwortlich seine eigenen Ziele.

Auf der Seite der unangenehmen Dinge beim FRSp gibt es mehr Übereinstimmungen. Am wenigsten Spaß macht Spielern:

Kampf 22,1%
schlechte Spielleiter, Abhängigkeit von und Unterdrückung durch Spielleiter 17,3%
besserwisserische, dominante, langweilige, gierige, engstirnige,
egoistische Spieler
12,5%
Tod der eigenen Figur 8,7%
strikte Regeleinhaltung, Bürokratie 5,8%
Wettbewerb in der Gruppe, schlechte Kooperation 4,8%
Regeldiskussionen 3,9%
Rätsel 3,9%
Sonstiges 16,4%

Interessanterweise betreffen viele dieser Negativ-Kategorien die Teilnehmerebene. Nimmt man beide Tabellen zusammen, kann man sagen, daß eine unangenehme bis zerstrittene Spielsituation (Nichtbeachtung von Regeln der Irrelevanz) als hinderlich für FRSp erlebt wird. Ist die Stimmung unter den Teilnehmern jedoch gut, so ist fast alles möglich.

Der Tod der eigenen Figur hat in der zweiten Tabelle deshalb eine so wichtige Stellung, weil er das Ende ihrer Karriere bedeutet und an einem Spieltermin praktisch das Ausscheiden des Spielers bewirkt – eine der wenigen Möglichkeiten für ein (zeitweiliges) Ende des Spiels für einen Spieler. Bleibt er an diesem Termin noch weiter in der Spielsituation, so muß er von der Stufe der aktiven Manipulation herab auf die Stufe der Imagination. (Beide Begriffe sind in Raum 1.1. erklärt.)

Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, daß der kämpferische Aspekt von FRSp mehr Ablehnung als Zustimmung findet. Das zeigt, daß sich die Spielpraxis von FRSp auch in diesem Punkt von ihren Vorbildern der Heroic-Fantasy – meiner Meinung nach positiv – unterscheidet.

Anhand der Spielleiterbefragung kann der bisherige Eindruck erhärtet werden. Spielleitern macht am meisten Spaß:

Ausarbeiten, Entwickeln von Abenteuern und Hintergrundgeschichten 21,4%
wenn die Spieler Spaß haben, ein guter Spielabend 12,3%
phantasievolle, intelligente, ideenreiche Spielgruppe 11,2%
fiese Tricks, Fallen, Leben der Figuren zu erschweren 8,2%
Ungewißheit, Verwirrung der Spieler 7,1%
Macht haben, Schicksal sein 7,1%
Nichtspielerfiguren und Monster mit Überzeugung spielen 6,1%
Gedankengänge anderer und Entwicklungen beobachten 5,1%
überraschende Situationen (selbst geplant oder von Spielern erzeugt) 5,1%
Rätsel 5,1%
Sonstiges 11,2%

Das sieht ja ganz danach aus, als ob das obige Schimpfen der Spieler auf ihre Spielleiter teilweise berechtigt wäre. Wie in Raum 4.5. angedeutet, sind sowohl der Macht- als auch der Verantwortungsaspekt des Spielleiteramtes wichtig für den Spielspaß seines Inhabers. Viel wichtiger aber ist die Möglichkeit, sich schriftstellerisch kreativ betätigen zu können – etwas, das sogar außerhalb des eigentlichen Spielgeschehens liegt. Allerdings gibt dies dem Spielleiter während des Spiels die Möglichkeit zur Selbstdarstellung.

Was macht Spielleitern nun überhaupt keinen Spaß? Die Antworten sehen so aus:

Regeldiskussionen, Streitigkeiten, nörgelnde, besserwisserische Spieler 22,5%
Kampf, Spielerfiguren töten 21,4%
starre Regelauslegung, Herumschlagen mit Spielmechaniken,
Papierkrieg (Buchhalterei)
17,4%
destruktive, egoistische, machtgierige Spieler 10,1%
Desinteresse/Langweile der Spielgruppe 7,9%
phantasielose, passive Spieler 6,7%
chaotisches Spiel ohne klare Linie 3,4%
Spieler zu disziplinieren 3,4%
Sonstiges 12,4%

Auch in der Negativ-Hitliste der Spielleiter stehen hauptsächlich Mißstände in der Teilnehmerebene verzeichnet. Desgleichen finden Sie auch hier die ablehnende Haltung gegenüber offener Gewaltanwendung. Die Kategorie “Spieler zu disziplinieren” weist noch einmal auf die starke Autorität des Spielleiters gegenüber den Spielern hin. Er kann disziplinieren, sie müssen sich unterordnen. Diese Verhaltensmuster haben natürlich ihre Berechtigung im Aufrechterhalten des Spielflusses (mehr dazu aber in Raum 6.2.).


Ballstaedt (1976) faßt die Bedingungen, die für Spaß am Spiel verantwortlich sind, in fünf Punkten zusammen. Sie werden erkennen, daß meine Untersuchungsergebnisse sehr gut in dieses System hineinpassen – mit einer Ausnahme.

Da ist zuerst das spontane Engagement eines Teilnehmers. D.h. er fühlt sich wohl, wenn er sich voll auf die Spielwelt einläßt und die notwendigen Regeln der Irrelevanz freiwillig einhält. Ist er nicht bei der Sache, und müssen die Mitspieler ihn ständig auffordern, sein Interesse dem Spiel zuzuwenden, empfindet dieser Spielverderber (Raum 4.4.) Unruhe und Anspannung.

Der zweite Punkt, der wichtig für die Spielfreude ist, ist die Möglichkeit, sich in bestimmten Grenzen selbst darstellen zu können, gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen zu entfalten und soziale Bedürfnisse zu befriedigen. Die Grenzen werden mit Hilfe der konstitutiven und der Regeln der Irrelevanz abgesteckt (Raum 3.1.).

Desweiteren macht ein Spiel Spaß, das Kreativität der Teilnehmer fordert und fördert, sowohl innerhalb der regulativen Regeln als auch mit ihnen auf der metakommunikativen Ebene der Regeldiskussion und -änderung außerhalb der Spieltermine. Denken Sie an die Räume 3.3. und 4.2. Im Zusammenhang der Selbstdarstellung wäre auch die Lust am Fabulieren, am Geschichtenerzählen zu nennen, die z.B. beim Erfinden der Vorgeschichten der Figuren zum Vorschein kommt. Es war unheimlich lustig, als ich meine frisch ausgewürfelte Zwergendiebin Elfriede (= die von den Elfen Beschützte) nannte und diesen Namen unter Zuhilfenahme verschiedener Götter und deren geschäftlicher wie privater Beziehungen zueinander erklären mußte. Wo doch jeder weiß, daß sich seit Tolkien Zwerge und Elfen nicht gut leiden können...

Genauso macht es Spaß, wenn die Figuren nicht immer nur das Vernünftigste und Erfolgversprechendste tun, sondern die Spieler auch erzählen, was sie Ungewöhnliches oder Neues tun könnten. Sie brauchen es ja ihre Figuren nicht ausführen zu lassen, aber allein die Vorstellung, ein Öffnungszauber auf ein riesiges Spinnennetz angewandt würde alle Knoten lösen und die verdutzten Spinnen 10 Meter tiefer aufwachen lassen, ist so witzig, daß alle ihren Spaß haben, ohne daß diese Aktion wirklich ausgeführt (geschweige denn funktionieren) würde.

Als vierten Punkt fordert Ballstaedt eine konstitutive Schlußregel, ein eindeutiges Ende des Spiels. Wie Sie inzwischen wissen, gibt es so etwas bei FRSp nicht und ist auch nicht nötig, um Spaß an dieser Spielform zu haben. Ein ungewisser Verlauf und Ausgang einzelner Abenteuer erzeugt jedoch Spannung, die für die Spielfreude wichtig ist.

Der fünfte Punkt schließlich besagt, daß Spannung außerdem im Risiko begründet liegt, das die Figuren eingehen. Es ist die Spannung „zwischen dem Risiko für die physische Unversehrtheit und dem Bedürfnis nach Sicherheit.“ (Ballstaedt 1976, S. 72) Voraussetzung ist natürlich die Fähigkeit der Spieler, sich ganz mit der Figur zu identifizieren, denn diese geht ja die Risiken ein. Ein FRSp-Abenteuer muß eine Herausforderung sein, um nicht zu langweilen. Es darf aber nicht unlösbare Aufgaben an die Spieler stellen bzw. unüberwindbare Gefahren (Marke: Killerdungeon) bieten. Demnach wechseln in einem guten Abenteuer Spannung (Erregung) und Entspannung (Ruhe, Sicherheit) einander ab wie in einer guten Kriminalgeschichte. Sutton-Smith (1978) schreibt, daß gerade in ruhigeren Momenten – Zeiten der Entspannung im Spiel oder gleich nach seinem Ende – das Vergnügen daran besonders zutage tritt. Diese Tatsache kann ich für FRSp nur bestätigen. Meiner Erfahrung nach wird am meisten gelacht bei Interaktionen in entspannten Situationen der Spielwelt, die nicht direkt wichtig sind für den Fortgang des Abenteuers. So wie die Teilnehmer am meisten Spaß haben in einer sicheren und behaglichen Atmosphäre in der Wirklichkeit, kommt es auch auf der Fantasywelt zu lustigen Situationen, wenn die Figuren nicht allzu gefährdet sind. Das ist auch der Fall nach dem glücklichen Bestehen des Abenteuers, wenn die Gruppe wieder in Sicherheit ist. Ich erinnere mich an einen Spielabend, als die Figuren zu guter Letzt in aller Ruhe mit ihren magischen Schätzen herumexperimentierten. Der Zauberer steckte einen Ring an und fragte, ob die anderen ihn noch sähen – worauf natürlich alle mit „nöö“ antworteten; nur die Zwergin Elfriede nicht, die nicht so schnell geschaltet hatte. Der Zauberer glaubt heute noch, er hätte einen magischen Ring-der-Unsichtbarkeit-gegenüber-allen-außer-Zwergen...

Bevor Sie diesen Raum wieder verlassen, soll noch einmal ausdrücklich gesagt werden, daß die Hauptursache für Freude und Unlust am FRSp die Teilnehmerrunde ist. Es ist ein kommunikatives, geselliges Spiel, bei dem viel geredet und gelacht wird.




Verliesebene sechs – Folgerungen zur Funktion von FRSp

Raum 6.1. Der Spaß, Drachen und Monster zu bekämpfen, denen man tagtäglich ausgeliefert ist.
oder: Kompensationsaufgabe von FRSp

Der Eingangsspruch über diesem Raum ist das Zitat einer Antwort auf die Frage: „Warum spielst Du FRSp?“ Schauen Sie sich die Häufigkeiten der übrigen Antworten an:

Geselligkeit, Kontakte, Leute kennenlernen 21,4%
in andere Welt einsteigen, Identifikation mit fremder Rolle 16,0%
Flucht aus ödem Alltag, Gegensatz zur rationalen Welt 11,5%
Abenteuer, Faszination, Spannung, Erforschen des Unbekannten 9,4%
Handlungsfreiheit, Möglichkeit zu eigenen Entscheidungen 8,4%
kreatives Spiel 6,1%
Abwechslungsreichtum, Regeländerung möglich 5,3%
Probleme und Schwierigkeiten meistern 4,6%
Interesse an Fantasy allgemein 4,6%
Teamgeistförderung, gemeinsame Entscheidungen 3,8%
phantasieanregend 3,8%
Sonstiges 4,6%

FRSp erfüllen also erst einmal das menschliche Bedürfnis nach der Gesellschaft anderer Menschen. Das tun allerdings auch andere Spiele. Was für eine weitergehende Bedeutung hat diese starke Phantasieleistung, dieses Vertiefen in eine thematisch weit von der Wirklichkeit entfernte, erfundene Welt?

Kinder, besonders im mythisch-magischen Lebensabschnitt, haben noch große Schwierigkeiten, Vorstellung und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Für sie hat Phantasie eine große wunscherfüllende Wirkung. Die Befriedigung von Bedürfnissen in der Vorstellung ist noch gut möglich. Bei Jugendlichen und Erwachsenen sieht das schon anders aus. Da ist das Bewußtsein, daß Fantasy = Fantasy und Wirklichkeit = Wirklichkeit ist, in starkem Maße vorhanden. Warum also FRSp?


Meine Erklärung setzt an der Gesellschaftsstruktur an. In unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft ist die produktive Arbeit streng getrennt von Familie und Freizeit. „Die Arbeit ist überwiegend eine Zweckhandlung, die eine Identifikation und Selbstverwirklichung, eine Sinngebung und Befriedigung nicht ermöglicht (= Entfremdung). Die Ursache dafür ist der Nichtbesitz an Produktionsmitteln und die verschiedenen Formen der Arbeitsteilung. Die Folge davon ist, daß persönliche Bedürfnisse zunehmend auf die Familie und den Freizeit- und Konsumbereich verschoben und verdrängt werden.“ (Baer, 1982, S. 13) Ich grenze noch weiter ein: „Hinter all den verschiedenen Arten von Spielen, die ausgeübt werden, steht der Wunsch, das Leben intensiver, bunter und voller (vividly) zu erfahren.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 194) Erreicht wird dies durch den rascheren Handlungsablauf gegenüber der Wirklichkeit. Das Spiel handelt nur von den Höhepunkten (oder Tiefpunkten) des Lebens, lange Strecken der Mittelmäßigkeit werden überschlagen. Jetzt kann der soziologische Begriff der Kompensation eingebracht werden. Er bezeichnet „den Ausgleich der von der eigenen Person empfundenen Mangelhaftigkeit ihrer Leistungen in einer Rolle durch Leistungen in einer anderen Rolle. Beispiel: die Kompensation von Mißerfolgen im Beruf durch Aufbau einer “Freizeitkarriere”.“ (Fuchs u.a., 1978, S. 405)

Und das trifft ja nun den Nagel der FRSp auf den Kopf! Die große Handlungsfreiheit und der hohe Simulationsgrad in dieser Spielform ermöglicht es jedem Teilnehmer, seine ganz persönlichen, im Alltag unerfüllten Bedürfnisse gemeinsam mit anderen in einer erdachten Welt auszuleben. Der Phantasie kommt die Überträgerfunktion (der Wünsche) von der Wirklichkeit in die Fantasywelt zu. Als FR-Spieler wissen Sie wohl, daß Ihre Figur nicht Sie selbst ist, aber sie verhilft Ihnen in Form eines genau auf Sie zugeschnittenen Modells zu einer Ersatzbefriedigung. Die Situation der FRSp-Teilnehmer ähnelt entfernt der Zuschauersituation im Sport, ist jedoch viel weiter entwickelt und verfeinert.


Als nächstes will ich beschreiben, welche grundlegenden Bedürfnisse auf die Figur übertragen und durch sie befriedigt werden können. Oben wird das Problem der entfremdeten Arbeit angesprochen. Erinnern Sie sich an Raum 3.4., in dem das Weltbild von FRSp aufgebaut ist? Die Figuren können sich den Traum von nicht-entfremdeter Arbeit erfüllen. Und das geschieht auch noch in einer kleinen, überschaubaren, bunten Gefährtengruppe, deren uneinheitliche Mitglieder als Team zusammenarbeiten. Das ist ein eindeutig positives Gegenbild zur heutigen Vermassung im beruflichen wie sonstigen Alltag. Die Figuren haben Erfolgserlebnisse und machen Karriere (Raum 3.4.). Bei ihnen ist dieser Prozeß sogar beobachtbar aufgrund der großen Handlungsdichte im FRSp. Sie haben Unabhängigkeit, Handlungsfreiheit, erlangen Macht und eigene Beteiligung am (Spiel-) Weltgeschehen. Sie gehen dem Forscherdrang ihrer Spieler nach, deren Neugier in der Wirklichkeit nicht so einfach und risikolos befriedigt werden kann. Wie Sie gesehen haben, sind Abenteuer und das Erforschen des Unbekannten wichtige Begründungen für den Spaß an FRSp. In Raum 4.4. wurde dann noch die Ventilfunktion dieser Spielform erwähnt. Sie werden Ihrer Chefin kaum an die Gurgel fahren, aber... (siehe Überschrift)

Soweit, so gut. Im FRSp können die Teilnehmer also ihre Phantasie anstrengen und entwickeln, um einen Ausgleich zu den Frustrationen des Alltags zu erleben. Die hierbei freigesetzte Phantasie ist allerdings fast vollständig an das Spiel gebunden und darauf beschränkt. Erstens, weil am nächsten Morgen wieder der normale Alltag auf die Teilnehmer wartet. Zweitens, weil die Ersatzbefriedigungen des Spiels auf Illusionen beruhen und unproduktiv sind, d.h. sie verändern die wirklichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Teilnehmer nicht. (Schauen Sie hierzu aber auch in Raum 6.3.) Eine Gefahr, deren sich alle FR-Spieler bewußt sein sollten, um ihr nicht zu erliegen, ist das völlige Versinken in der Fantasywelt und ihren Geschehnissen, der allmähliche Verlust des Kontaktes mit der Wirklichkeit. Das ist jetzt zugegebenermaßen ziemlich drastisch ausgedrückt, aber wenn die Steigerung ins Spiel weit über die reine Kompensation des “Realitätsfrustes” hinausgeht, kommt es zu einer Art von Weltflucht. Gefährlich ist das nur deshalb, weil FRSp an sich schon eine sehr viel Zeit benötigende Beschäftigung ist. Je weiter Sie sich in die Spielwelt vertiefen, desto weniger Zeit bleibt Ihnen für die Entwicklung und Anwendung produktiver Phantasie und Kraft, z.B. um Ihre schulische oder berufliche Mitbestimmung zu erweitern und dadurch direkte Befriedigung zu erlangen.


Bis jetzt ging es in diesem Raum um die Bedeutung von FRSp für den Einzelnen. Nun soll noch etwas zum gesamtgesellschaftlichen Bezug gesagt werden. Spiele allgemein sind abhängig von der Gesellschaftsstruktur und den gesellschaftlichen Schichten, in denen sie gespielt werden. Diese Abhängigkeit zeigt sich bei FRSp z.B. darin, daß jeder nach seinem Verhalten in Zahlen, Punkten oder ähnlichem beschrieben, eingeordnet und bewertet wird. „Solche Spiele haben Bedeutung für eine Welt, in der wir alle unterschiedliche Gehälter beziehen, unterschiedliche Mengen an Autos, Fernsehgeräten und Bädern besitzen.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 198)

Weitere Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen von FRSp und Wirklichkeit sind in Raum 3.4. zusammengetragen. All das trägt mit dazu bei, eine einigermaßen vertraute Umgebung im Spiel zu schaffen, die wichtig ist, um sich wohl zu fühlen. Fremdheit erzeugt Verunsicherung, die mit Unterhaltung nicht vereinbar ist. Denken Sie nur mal an das Urlaubsverhalten deutscher Touristen in Spanien: deutsche Sprache, deutsches Bier, deutsches Essen, Betonhochhäuser...

Die Gesellschaft bedingt also die Grundformen des Spiels. Umgekehrt sorgt das Spiel für zufriedene, erholte Menschen. Es stellt ihre Arbeitskraft wieder her, so daß sie wiederum die Gesellschaft als Ganzes erhalten können – einschließlich der Macht und Herrschaftsstrukturen. Spiel stellt uns durch „ein Lebenshochgefühl wieder als das zuversichtliche Mitglied unserer Kultur, das wir ja sind, her und befähigt uns, optimistischer als zuvor auf dem bisherigen Kurs weiterzusteuern.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 199) Das trifft auch auf FRSp zu. Schon im alten Rom war das Prinzip von Brot und Spielen zur Festigung der Gesellschaft bekannt.



Raum 6.2. Wer hat an meiner Klugheit radiert?
oder: Integrationsaufgabe von FRSp

Im vorigen und in Raum 3.4. haben Sie erfahren, daß sich grundlegende Prinzipien von FRSp und Wirklichkeit ähneln. „Die soziale Wirklichkeit im Produktions-, Dienstleistungs- und Freizeitsektor wird immer mehr durch Gruppenleistungen bestimmt.“ (Baer/Thole, 1985, S. 95) Denken Sie an die Mitarbeiter-Teams vieler sozialer Einrichtungen und die zaghaften Versuche der Industrie mit Gruppenarbeit am Fließband (Volvo). Wie in diesen Beispielen wird jedoch von den FRSp-Teilnehmern als Gruppe die Unterordnung unter eine Autorität – den Spielleiter – gefordert.

„Wir leben in einer Informationskultur. Die Menschen verdienen in wachsendem Maße ihr Brot mit geistiger Tätigkeit.“ (Sutton-Smith, 1978, S. 199) Das trifft insbesondere für den schulischen, akademischen und bürokratischen Bereich zu. Sutton-Smith spricht von einer Gewohnheit zu denken und dem Bedürfnis nach Reflexion. Für FR-Spieler ist es wichtig, das Verhalten ihrer Figuren auf mehr oder weniger lange Hand vorauszuplanen. FRSp verlangen ausdauernde geistige Konzentration und Fähigkeiten. Geschicklichkeit im handwerklich-körperlichen Bereich ist nicht nötig (Raum 3.1.). Beobachten Sie eine FRSp-Gruppe einmal ohne Ton: Menschen sitzen an einem Tisch. Sie haben vor sich Papiere liegen mit Zahlen, Daten und Tabellen. Sie schreiben und blättern in Büchern. Die Ähnlichkeit mit Büroarbeit oder Gruppenarbeit in Schule und Studium ist doch verblüffend! Die Form von FRSp spiegelt nicht nur Grundlagen der modernen westlichen Zivilisation wider, sondern speziell die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen von Menschen, die überwiegend Kopfarbeit verrichten. Für Angehörige dieser Bevölkerungsschichten ist die Spielsituation von FRSp eine besonders vertraute Umgebung. Sie können am ehesten Verhaltensmuster, die auf der Teilnehmerebene auftreten und geübt werden, in ihren Alltag übertragen (Raum 4.4.). FRSp bieten daher nicht nur Ersatzbefriedigung und Ausgleich zur frustrierenden Wirklichkeit. Aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Formen mit der Arbeitswelt übernehmen diese Spiele gleichzeitig eine gesellschaftliche Trainingsfunktion vor allem für obengenannte Teile der Bevölkerung. Es werden aber auch allgemeine “Lernziele” unserer Gesellschaft vermittelt, wie das Leistungs- und Autoritätsprinzip.

Illustration: Prokura & Professoren


Raum 6.3. Hätt’ ich nicht gedacht, daß Du auch so kannst...
oder: Erneuerung durch FRSp

Aufgrund der Altersgruppe der Teilnehmer werden hauptsächlich bestimmte schon vorhandene Verhaltensansätze weiter geübt und weniger völlig Unbekanntes erlernt (Raum 4.4.). In diesem Raum soll dargestellt werden, daß und welche solcher neuen Handlungs- bzw. Denkmuster durch FRSp gefördert werden können.

Der auffälligste Bereich der Erneuerung ist wohl der der Kooperation und Teamarbeit. Diese Arbeitsformen sind in unserer Gesellschaft erst ansatzweise verwirklicht, und gerade das vorherrschende Schulsystem legt immer noch mehr Wert auf Einzelleistungen und Wettbewerb. FRSp bieten dagegen ein gutes Übungsfeld für unterstützendes Gruppenverhalten, ohne eigene Persönlichkeit und Ziele aufzugeben. Die Umfrage beweist, daß diese Möglichkeit auch genutzt wird (blicken Sie zurück in Raum 4.3.).

Besonders wirksam ist das wegen des großen Anteils nichtritualisierter Interaktion. D.h. über weite Teile des Spiels kann ein Spieler keine Verantwortung auf irgendwelche Regeln abschieben. Er ist ziemlich eigenständig, was das Verhalten seiner Figur angeht; er übt selbstverantwortliches Handeln – was gleichzeitig eine weitere Erneuerung durch FRSp ist. Das führt dazu, daß kooperatives Verhalten nicht aufgrund von Regelzwängen (wie im Brettspiel) gezeigt werden muß, sondern eine freie Entscheidung der Spieler ist, allenfalls abhängig von der Situation.

Gerade der kooperative Aspekt von FRSp ist es auch, der die Spieler dazu bringt, sich miteinander zu beschäftigen, Ideen auszutauschen, spontan und direkt aufeinanderzuzugehen und sich zu unterhalten (Raum 4.2.). Dazu gehören auch die Fähigkeiten, auf andere einzugehen, sich mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen und diese zu akzeptieren oder zu tolerieren. Ebenso wichtig ist es, eigene Wünsche klar mitteilen zu können. Mit sozialwissenschaftlichen Worten: FRSp unterstützen die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz ihrer Teilnehmer.

Hier kommt eine weitere Erneuerung “ins Spiel”: Dadurch, daß FRSp auch Kommunikation außerhalb des eigentlichen Spiels über dasselbe anregt (Regeldiskussion und -änderung), wird eine neue Kreativität angeregt, die nicht innerhalb des Spiels gebunden bleibt. Der Umgang mit dem Spiel selbst und seine Veränderung nach eigenen Wünschen bilden nach Ballstaedt eine Grundvoraussetzung für persönliche Befreiung (= Emanzipation) und Eigenständigkeit (= Autonomie).

„In der Spielsituation herrscht allgemein die Tendenz, soziale Unterschiede in der Interaktion nicht wirksam werden zu lassen. Dieser Nivellierungseffekt enthält durchaus ein emanzipatorisches Moment: Die Spielteilnehmer können sich losgelöst von den normierten Alltagssituationen unter neuen Perspektiven wahrnehmen, kennenlernen und beurteilen.“ (Ballstaedt, 1976, S. 57) Sowohl die Einnahme fremder Rollen als auch das Thema Fantasy überhaupt grenzen die wirkliche soziale Situation der Teilnehmer ziemlich stark aus, was in Raum 3.1. schon angesprochen wurde.

Zudem bieten FRSp die Einübung der Übernahme verschiedener Rollen in verschiedenen Gruppen, eine Fähigkeit, die sehr wichtig ist in einer so vielschichtigen Gesellschaft wie der unsrigen. Eine zusätzliche Förderung im Spiel kann eine Hilfe sein, sich in veränderten Situationen oder neuen Gruppierungen in Ausbildung/Beruf und Freizeit zurechtzufinden bzw. anzupassen.

Zusammengefaßt können zwei Bereiche der Erneuerung durch FRSp festgestellt werden: Erstens eine Erweiterung der Verhaltensmöglichkeiten des Einzelnen, eine Erhöhung seiner gesellschaftlichen Flexibilität. Zweitens die Förderung der persönlichen Befreiung und Eigenständigkeit. Beides ist sowohl eingebettet in als auch eingeschränkt von den gesellschaftsbestimmten Formen bzw. Prinzipien von FRSp und ihrer thematischen Entfernung der Spielwelt von der Wirklichkeit.



Raum 6.4. Mein Magier wendet “Macht über Menschen” auf ihn an.
oder: Sozialpädagogische Aussichten

Die Untersuchungsergebnisse der vorangehenden Räume gehen alle davon aus, daß sich eine FR-Spielgruppe freiwillig zusammenfindet, um nur zu ihrer Unterhaltung zu spielen. Nachdem diese Arbeit schon fast fertiggestellt war, kam ich über die Vermittlung von Jürgen E. Franke (Autor von MIDGARD) in Kontakt mit Christoph Bräuer, einem Diplom-Psychologen aus Wildeshausen. Seit nun vier Jahren selbst aktiver FR-Spieler setzte er von Februar 1984 bis Ende 1985 zum ersten Mal das FRSp-System MIDGARD in der Gestaltung der Zusammenkünfte dreier Selbsthilfegruppen therapeutisch ein. Darüber möchte ich hier berichten, da es sich zeigt, daß die verschiedenen schon genannten Möglichkeiten von FRSp auch in der sozialpädagogischen Praxis anwendbar sind. Ich werde mich dabei eng an einen Brief C. Bräuers halten, in dem er mir das Projekt beschrieb.

Beteiligt waren 32 Personen, die in Privatinitiative drei Gruppen gebildet hatten, welche sich je einmal wöchentlich für 3-4 Stunden trafen. Die Zielsetzung war, soziale Kontakte herzustellen, Selbsterfahrung zu sammeln und gemeinsam Problemlösungen zu erarbeiten. Der Anteil männlicher und weiblicher Teilnehmer war ungefähr gleich, die Altersspanne reichte von 19 bis 46 Jahren mit dem Durchschnitt knapp über 30. Problembereiche waren: Kontaktarmut, Partnerprobleme, Sozialstörungen, Unselbständigkeit, Unsicherheit, unspezifische Ängste, Unruhe und bestimmte psychosomatische Beschwerden. Es ging also vor allem um den Bereich des Sozialverhaltens und -erlebens. Der Anleiter bzw. Therapeut übernahm das Amt des Spielleiters, der nach einer gewissen Zeit des Kennenlernens in der Lage war, Figuren und Abenteuer passend zu den Problemen der Gruppenmitglieder auszuarbeiten.

Wichtigster Ausgangspunkt für den gezielten Einsatz von FRSp ist die Möglichkeit, hinter der Maske der Figur ungewohnten Wünschen nachgehen zu können, mit einem gewissen Abstand von der eigenen Wirklichkeit Dinge zu denken oder zu tun, deren sich der Betreffende normalerweise schämen würde, da sie seinem Selbstbild widersprechen, die ihm Angst machen usw. Man ist vor allzugroßen inneren Konflikten geschützt, da “schlechtes” Verhalten dem Charakter der Figur zugeschrieben werden kann (Raum 4.4.). Mit zunehmender Spielzeit wächst jedoch der Identifikationsgrad mit der Figur, und diese Dualität von Identifikation und Abstand ermöglicht es, neue Verhaltensstrategien auszuprobieren, ohne bedrohliche Folgen befürchten zu müssen. Dadurch bieten FRSp auch andere Möglichkeiten der Ursachenzuschreibung. Hat die Handlung einer Figur Erfolg, wird die Leistung als selbstverursacht zugeordnet („Hab ich mir gar nicht zugetraut“), bei Mißerfolg kann dieser der Figur zugeschrieben werden. So wird dem FR-Spieler ein großer Teil des oft bestehenden Leistungsdrucks und damit eine ausgeprägte Mißerfolgsangst genommen. Die Handlungsfähigkeit ist daher kaum durch Ängste und interne Bedrohung geschwächt. Über die Anlage der Abenteuer kann diese Atmosphäre gezielt gesteuert werden.

Das wirklichkeitsferne Thema von FRSp und die große Handlungs- und Entscheidungsfreiheit für den einzelnen Spieler führen ihn leicht in ein Vergessen der Alltagswelt und damit zum Verlust vieler innerer Kontrollmechanismen, besonders der Angst. Thema, Form und die Tatsache, daß es “nur” Spiel ist, machen das soziale Übungsfeld “sicher”. Daraus ergibt sich beim therapeutischen Einsatz die Notwendigkeit, vom erlebten Verhalten in der Spielsituation zur realen Lebensumwelt der Spieler einen Bezug herzustellen. Im Projekt C. Bräuers endete daher jedes Treffen mit einer Aufarbeitung des Spielgeschehens – zum Teil mit Hilfe von Tonmitschnitten. Wichtig dabei war, zum Schluß nicht doch noch eine zu große “Bedrohlichkeit” aufzubauen. Da jedoch am Ende eines Spieltermins normalerweise eine entspannte, gelöste Stimmung vorherrschte (Raum 5.2.), konnten sich die Beteiligten in spielerischer Unbefangenheit angstfrei der Wirklichkeit zuwenden.

Zwei Punkte sind wesentlich, damit das Spielen von FRSp über den reinen Spielspaß hinaus den Teilnehmern persönlich etwas bringt. Zum einen zieht eine Aktion einer Figur auf der Spielwelt eine möglichst reale Gegenreaktion nach sich. Meist ist diese erheblich intensiver als es im Alltag der Fall ist. Das läßt Zusammenhänge deutlicher hervortreten, was deshalb wichtig ist, weil der obengenannte Personenkreis oft auch Schwächen in der sozialen Wahrnehmung hat, soziale Situationen häufig nicht angemessen deuten und durchschauen kann. Gerade beim gezielten Einsatz von FRSp sollten diese Gegenreaktionen prompt kommen und der Spielleiter auch sofort positive Rückmeldungen verteilen (gelungene Aktion, Lob, usw.). Das wirkt sich besonders beim Erproben angestrebter Verhaltensweisen wie: Initiative ergreifen, eigenen Standpunkt vertreten, Eigeninteressen wahrnehmen und mitteilen, Kooperation anstreben aus (Raum 6.3.).

Zum anderen erhält jeder Spieler anders als bei der “klassischen” Spielweise eine bestimmte Rolle zugewiesen, die in wichtigen Bereichen seine Persönlichkeitsstruktur anspricht. Das kann sowohl ein völlig gegensätzlicher Charakter sein, der neues Verhalten erfordert, als auch eine Figur, die die jeweiligen Probleme überzeichnet. Diese Rollenzuweisung sollte schrittweise eingesetzt werden, um mit bestimmten Charaktereigenschaften vertraut zu machen, Standpunkte zu hinterfragen und besonders, um Erfahrungen mit der Wirkung bisher unvertrauter Verhaltensweisen zu sammeln.

Das herkömmliche pädagogisch/ psychologische Rollenspiel trennt das geforderte neue Verhalten aus dem Gesamtzusammenhang. Bei FRSp besteht für den Spieler die Notwendigkeit, während des Spiels die Situationen zu erkennen, in denen die angestrebten Verhaltensweisen angebracht sind. Die Ansatzmöglichkeiten sind nicht so stark festgelegt, sondern ergeben sich erst im Dialog mit den anderen Spielern. Sie müssen erst erkannt und gedeutet werden, um eine Reaktion hervorzurufen. Obwohl das zeitaufwendiger ist, bieten FRSp damit einen weiteren wichtigen Erfahrungsaspekt. Auch für den Anleiter ist der Aufwand erheblich: Organisation, Problemanalysen, Umsetzung in FRSp-Abenteuer, Aufarbeitung, Sicherung des Praxisbezuges, Realübungen...

Dennoch zeigte das Projekt, daß diese Spielform eine hervorragende Möglichkeit ist, besonders Menschen mit sozialen Problemfeldern Hilfe zu leisten. Von den 26 Personen, die über die ganze Zeit teilnahmen, äußerten sich 22 dahingehend. Obgleich die Projektteilnehmer den realen persönlichen Nutzen, den sie aus den Treffen gezogen hatten, sehr unterschiedlich beurteilten, gaben 18 an, wichtige Fortschritte für ihr Ziel gemacht zu haben.

Bräuer entwickelte das folgende Schema der Vorgehensweise:

  1. Anbieten einer SH-Gruppe über Stadtzeitung, soziale Dienste u.ä.
  2. Kontaktherstellung
  3. Treffen zum Kennenlernen
  4. Individuelle Problemanalyse
  5. Vorstellung des FRSp
  6. “Freies” Spiel zum Kennenlernen der Regeln etc.
  7. Ausarbeitung von “problemorientierten” Abenteuern bzw. Adaption vorhandener Abenteuer
  8. Durchführung des Spiels
  9. Jeweils anschließende Aufarbeitung
  10. Reflexion, Suche nach realen Übungsschritten, u.U. herkömmliche Rollenspielübungen
  11. Rückmeldung über Erprobung von 10.
  12. Gegebenenfalls bei 4. neu beginnen



Nachspiel

Sie sind tief unter die Oberfläche von FRSp vorgedrungen. Jetzt machen Sie sich langsam auf den Rückweg – vielleicht beladen mit vielen alten und neuen “Schätzen”.

Haben Sie etwas vermißt? Es gibt einige Punkte, die nur kurz oder gar nicht zur Sprache gekommen sind. Da wäre z.B. das Verhältnis von FRSp zu Religion bzw. umgekehrt. Kurz bevor ich diese Zeilen schrieb, erfuhr ich von dem Buch “Spiel mit dem Feuer” von John Weldon und James Bjornstad (deutsch bei Schulte + Gerth). Dabei handelt es sich offenbar um eine generelle Verdammung von Fantasy und FRSp aus pietistisch/ christlicher Sicht.

Desweiteren könnte sicher mehr gesagt werden über das Thema “Sex and D&D – oder: Zwischenmenschliche Beziehungen im FRSp”. Zum Thema Gewalt und Schwarz-Weiß-Malerei in diesen Spielen verweise ich auf den “Gildenbrief” Nr. 7; zum Frauenbild in FRSp findet sich in der “Spielwelt” Nr. 28 ein guter Artikel von Max Bauer.

Manche Teile dieser Arbeit mögen arg theoretisch oder gar weit hergeholt aus der Sekundärliteratur klingen. Es ist jedoch kein Ergebnis darunter, das nicht in irgendeiner Form mit meiner FR-Spielerfahrung in Einklang steht. Die meiner Meinung nach wichtigste Sache für eine möglichst objektive Beurteilung dieser Spiele ist das Wissen um ihre Veränderbarkeit. Das jeweilige Fantasy-Weltbild, das eine Gruppe im Laufe des Spiels entwickelt, ist abhängig von ihren Mitgliedern. Das bietet die Möglichkeit, sich von den kommerziellen Vorgaben sowohl der FRSp als auch der Fantasy-Literatur zu lösen.

Das Wissen um diese Eigenart verhilft vielleicht dazu, Berührungsängste gegenüber FRSp abzubauen. Gerade diese Spiele sind so veränderlich oder so starr wie die Vorstellungen und Denkmuster ihrer Teilnehmer. Wer hier mit dem festen Bewußtsein, daß FRSp eh nur Haudrauf-Angelegenheiten sind, seinen ersten Spieltermin erlebt, kann durch sein Verhalten diese Vorurteile nur selber bestätigen (auch dazu läßt das Spiel ihm die Freiheit).

Sicher haben vor allem Aufmachung und inhaltliche Schwachstellen von DSA ein eher negatives Gesamturteil bei erzieherisch Tätigen hinterlassen. Ich denke da besonders an ein Gespräch auf den Spieltagen ’86 in Essen mit dem Bremer Spielpädagogen Hajo Bücken von der Arbeitsstelle für neues Spielen, der sich als Gegner von FRSp sieht. Er hat versucht, in der Form von Groß-Gruppenspielen eine Alternative zu entwickeln. Dieses Vorhaben ist jedoch noch nicht ausgereift. Ich denke, daß im pädagogischen Bereich für FRSp dasselbe gilt wie für Spielpädagogik allgemein: Es ist eine Methode, mit der man verschiedene Ziele anstreben kann. Als solche kann und sollte man ihre emanzipatorischen Möglichkeiten nutzen, gerade in der Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen.

In meiner “Rolle” als FR-Spieler kann ich nach dem Abschluß dieser Arbeit sagen: Mir sind Aspekte bewußt geworden, die mir nicht gefallen und welche, die mir sehr gefallen. Auf jeden Fall werde ich weiterspielen!

Illustration: DSA . . .




Anhang:

Folgend finden Sie den Fragebogen, den ich für meine Umfrage zusammengestellt und verwendet habe. Darauf folgen zwei Beispiele für die Korrespondenz mit den Spieleläden und den FRSp-Verlagen. Anschließend kommt die im Vorspiel versprochene Erklärung der wichtigsten Fremdwörter und Abkürzungen, mit denen Sie im Verlies dieses Buches zu kämpfen hatten. Den Abschluß bildet die Literaturliste einschließlich der von mir benutzen FRSp.


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Fragebogen Seite 1
Fragebogen Seite 2


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Korrespondenz Spieleläden


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Korrespondenz FRSp-Verlage


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Fremdwörter und Abkürzungen

AD&DAdvanced Dungeons & Dragons
affektivgefühlsmäßig
AspektTeilbereich, Gesichtspunkt
AssassineAngehöriger eines Geheimordens, dessen Ziele er mit allen Mitteln verfolgt
AttributMerkmal, Eigenschaft
Chauvinismus(hier:) überhebliche, selbstgefällige Art von Männern gegenüber Frauen aufgrund einer Höherwertung des männlichen Geschlechts
DMGDungeon Masters Guide
DSADas Schwarze Auge
DualitätDoppelheit, wechselseitige Zuordnung zweier Begriffe
Engagementpersönlicher Einsatz
externaußerhalb, draußen
FRSpFantasy-Rollenspiel(e)
FSVFantasy-Spiele-Verlag
GestikAusdrucksbewegungen des Körpers
Identifikationgefühlsmäßiges Sichgleichsetzen mit einer anderen Person
ImaginationEinbildungskraft, anschauliches Denken
individuellauf die Bedürfnisse und besonderen Verhältnisse des einzelnen Menschen zugeschnitten
Integration(hier:) die Eingliederung in die Gesellschaft
intellektuellbetont verstandesmäßig, auf das Denken bezogen
Interaktionaufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen
interninnerhalb, innen
IrrelevanzBedeutungslosigkeit, Ungewichtigkeit
KommunikationVerständigung untereinander
KompetenzVermögen, Fähigkeit
komplexvielschichtig, viele Dinge umfassend
konstitutivzur Festlegung dienend, die Bedeutung einer Sache bestimmend
Kreativitätschöpferische Kraft
Manipulationgezielte Veränderung, bewußtes Eingreifen
MERPMiddle-Earth Role-Playing
MetakommunikationKommunikation über die Kommunikation
MimikMienenspiel des Gesichts
MotivationBeweggründe für menschliches Handeln
objektivsachlich, unvoreingenommen, ohne Vorurteile
Paladinedler, ritterlicher Krieger
Perzeptionsinnliche Wahrnehmung
PHPlayers Handbook
Questeabenteuerliche Suche
reglementiert/regulativ durch Vorschriften geregelt
RitualVorgehen nach festgelegter Ordnung
Sexismusinsbesondere herabwürdigendes Verhalten gegenüber Frauen aufgrund ihres Geschlechts
Strukturinnerer Aufbau, Gliederung der Teile des Ganzen
TSRTactical Studies Rules



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Baer, Ulrich (1982). spielpäd – Arbeitsblätter zur Spielepädagogik. Robin Hood Versand.
Baer, Ulrich & Thole, Werner (1985). Kooperatives Verhalten im Spiel. Remscheid: Akademie Remscheid.
Denker, Rolf & Ballstaedt, Steffen-Peter (1976). Aggression im Spiel. Stuttgart: Kohlhammer.
Edelmann, Walter (1978). Einführung in die Lernpsychologie. Band 1. München: Kösel.
Evangelische Jugend Köln-Kalk (1981). Kalker Spiele 3 – neun Spielvorschläge. Köln: im Eigenverlag.
Fuchs, Werner et al (1978). Lexikon zur Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Goffman, Erving (1973). Interaktion. München: Piper.
Hartung, Johanna (1977). Verhaltensänderung durch Rollenspiel. Düsseldorf: Schwann.
Hetmann, Frederik (1984). Die Freuden der Fantasy. Berlin: Ullstein.
Klippstein, Hildegard & Eberhard (1978). Soziale Erziehung mit kooperativen Spielen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Krause, Siegfried (1975). Zur soziologischen Grundlegung einer Spielpädagogik. Stuttgart: Thienemann.
Müller, Wolfgang et al (1982). Duden – Fremdwörterbuch. Mannheim: Bibliographisches Institut.
Retter, Hein (1979). Spielzeug. Weinheim: Beltz.
Richter, Dieter & Merkel, Johannes (1974). Märchen, Phantasie und soziales Lernen. Berlin: Basis Verlag.
Sutton-Smith, Brian (1978). Die Dialektik des Spiels. Schorndorf: Hofmann.


Zeitschriften

Dragon. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Fantasywelt. Sankt Augustin: Fantasywelt Verlag.
Maud Magazin. München: Dieter Müller.
Spielbox. Bonn: Spiel + Kommunikation.
Spielwelt. Friedberg: Club für Fantasy- und Simulationsspiele.
Gildenbrief. Neuwied: Karl-Georg Müller.


Fantasy-Rollenspiele

Gygax, Gary & Arneson, Dave (1974). Dungeons & Dragons. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Gygax, Gary & Arneson, Dave (1983). D&D Basis-Set. Leinfelden-Echterdingen: FSV.
Gygax, Gary & Arneson, Dave (1984). D&D Experten-Set. Leinfelden-Echterdingen: FSV.
Gygax, Gary & Arneson, Dave (1985). D&D Ausbau-Set. Leinfelden-Echterdingen: FSV.
Gygax, Gary (1977). Advanced Dungeons & Dragons – Monster Manual I. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Gygax, Gary (1978). Advanced Dungeons & Dragons – Players Handbook. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Gygax, Gary (1979). Advanced Dungeons & Dragons – Dungeon Masters Guide. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Turnbull, Don u.a. (1981). Advanced Dungeons & Dragons – Fiend Folio. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Gygax, Gary (1983). Advanced Dungeons & Dragons – Monster Manual II. Lake Geneva (USA): TSR Inc.
Kiesow, Ulrich (1984). Das Schwarze Auge – Abenteuer-Basis-Spiel. Eching: Schmidt Spiele/ Droemer-Knaur.
Kiesow, Ulrich (1984). Das Schwarze Auge – Die Werkzeuge des Meisters. Eching: Schmidt Spiele/ Droemer-Knaur.
Kiesow, Ulrich u.a. (1985). Das Schwarze Auge – Abenteuer-Ausbau-Spiel. Eching: Schmidt Spiele/ Droemer-Knaur.
Lorenz, Ute & Vogt, Michael (1985). Magie + Macht. Duisburg: im Eigenverlag.
Coleman, Charlton S. u.a. (1984). Middle-Earth Role Playing. Charlottesville (USA): Iron Crown Enterprises Inc.
Franke, Jürgen E. (1983). MIDGARD I + II. Friedberg: Verlag für F&SF-Spiele.
Franke, Jürgen E. (1985). MIDGARD – Das Fantasy-Rollenspiel. Friedberg: Verlag für F&SF-Spiele.
Franke, Jürgen E. (1986). MIDGARD Schlüssel zum Abenteuer. Friedberg: Verlag für F&SF-Spiele.
Andre, Ken St. (1983). Schwerter & Dämonen. Düsseldorf: Fantasy Productions.



Liste von weiteren
Quellen über Rollenspiele
Listing of other sources
about role-playing games